1736 erschien der fünfte Teil von Brockes‘ Irdischem Vergnügen in Gott, 1739 der sechste. Beide Teile erfuhren 1740, noch zu Lebzeiten Brockes‘, eine Neuauflage. Die vorliegende, von Jürgen Rathje im Wallstein-Verlag herausgegebene historisch-kritische Werkausgabe orientiert sich prinzipiell an der Ausgabe letzter Hand -in diesem Fall also an denen von 1740. Varianten und Abweichungen sind im editorischen Anhang aufgeführt. Man mag heute, wo die Tendenz bei historisch-kritischen Ausgaben dahin geht, die jeweils wirkungsmächtigste Ausgabe als ‚gültig‘ zu betrachten, die in vielen Fällen eben nicht die vom Autor im Alter noch überarbeitetete und geglättete ist, in Bezug auf die Orientierung an der Ausgabe letzter Hand kritisch gestimmt sein – in Brockes‘ Fall, wo die Auflagen des (nach damaligem Massstab) Bestsellerautors so rasch hintereinander folgten, aber nicht ohne dass Brockes seine Gedichte überarbeitete, ist dieses Verfahren durchaus vertretbar. Im Übrigen, um dies auch gleich abgehandelt zu haben, ist auch dieser Band mustergültig gestaltet und kommentiert.
Die Jahre, in denen der fünfte und der sechste Teil des Irdischen Vergnügens in Gott erscheinen, stellen eine ereignisreiche Zeit im Leben Brockes‘ dar. Er geht als Amtmann nach Ritzebühl, sein letztes Kind kommt zur Welt, seine Frau stirbt. Alles hinterlässt seine Spuren in seinen oft autobiografisch gestimmten Gedichten. Aber selbst der Tod seiner Ilsabil vermag Brockes (jedenfalls in seinem Werk) nicht aus der heiteren Gemütsruhe zu bringen, in der er die Natur betrachtet und als grosses, freundliches Werk seines GOttes empfindet.
Dabei haben wir in diesen beiden Teilen sogar relativ wenig eigentliche Naturlyrik vor uns. Vieles geht in Richtung Gedankenlyrik: Brockes macht sich Gedanken über Gott und die Welt (eigentlich in umgekehrter Reihenfolge). Er spekuliert über Sätze aus Senecas Briefen und Ciceros Gesprächen. Er zitiert zustimmend Descartes‘ Satz, dass Gott den Menschen nicht betrügen kann und wir deshalb zu Recht denken, dass wir so existieren, wie wir existieren. Er glaubt, den Atheisten besiegt zu haben, indem er ihn darauf verweist, wie doch die Natur nach einem allgemeinen Plan geschaffen sei, und wie dieser allgemeine Plan doch eindeutig auf (wie wir heute sagen würden) einen ‚Master-Mind‘ verweise, der diesen Plan geschaffen habe und nun seine Schöpfung koordiniere.
Brockes‘ Ausflüge in die Theologie und in die Philosophie sind heute eher rührend als interessant und zumindest für die Philosophie als Fachgebiet auch schon damals völlig irrelevant. Das tut der Schönheit vieler seiner Gedichte keinen Schaden, und ich möchte doch (abermals) zum Schluss eines davon zitieren:
Die kleine Fliege.
Neulich sah ich, mit Ergetzen,
Eine kleine Fliege sich,
Auf ein Erlen-Blättchen setzen,
Deren Form verwunderlich
Von den Fingern der Natur,
So an Farb‘, als an Figur,
Und an bunten Glanz gebildet.
Es war ihr klein Köpfgen grün,
Und ihr Cörperchen vergüldet,
Ihrer klaren Flügel Par,
Wenn die Sonne sie beschien,
Färbt‘ ein Roth fast wie Rubin,
Das, indem es wandelbar,
Auch zuweilen bläulich war.
Liebster GOtt! wie kann doch hier
Sich so mancher Farben Zier
Auf so kleinem Platz vereinen,
Und mit solchem Glanz vermählen,
Daß sie wie Metallen scheinen!
Rief ich, mit vergnügter Seelen.
Wie so künstlich! fiel mir ein,
Müssen hier die kleinen Teile
In einander eingeschrenckt
Wunderbar verbunden seyn!
Zu dem Endzweck, daß der Schein
Unsrer Sonnen und ihr Licht,
Das so wunderlich-schön,
Und von uns sonst nicht zu sehn,
Unserm forschenden Gesicht
Sichtbar werd‘, und unser Sinn,
Von derselben Pracht gerühret,
Durch den Glantz zuletzt dahin
Aufgezogen und geführet,
Woraus selbst der Sonnen Pracht
Erst entsprungen, der die Welt,
Wie erschaffen, so erhält,
Und so herrlich zubereitet.
Hast du also kleine Fliege,
Da ich mich an dir vergnüge,
Selbst zur GOttheit mich geleitet.
Oder, wie der von Jürgen Rathje im Vorwort zitierte Arno Schmidt sagte: Ein Verwaltungsbeamter hatte zu zaubern begonnen.