Rudyard Kipling: Kim

I am Kim. I am Kim. And what is Kim? – Immer wieder, mantra-mässig, stellt sich der Protagonist des Romans diese Frage. Nicht zu Unrecht, denn: Wer oder was ist Kim wirklich? Nur auf den ersten Blick erscheint die Antwort einfach: Kim ist Kimball O’Hara, der Sohn eines britischen Soldaten, der mit seinem britischen Regiment in Indien stationiert wurde. Doch diese einfache Antwort befriedigt nur den anglikanischen Pfarrer ebendieses Regiments. Schon die Sache mit dem Regiment nämlich ist komplex: Das britische Regiment ist genauer gesagt ein irisches Regiment. Obwohl Kipling nirgends darüber spricht: Da diesem Regiment sowohl ein anglikanischer Pfarrer wie ein katholischer Priester zugeordnet wurden, muss davon ausgegangen werden, dass beide Konfessionen unter den Soldaten vertreten waren – also auch Vertreter des katholischen Teils von Irland, der von Grossbritannien auch nicht besser gehalten wurde als irgendeine der Kolonien, und der sich keine 20 Jahre nach Entstehen von Kim gegen Grossbritannien erheben sollte. Zurück zu Kim: Er ist zwar der Sohn britischer Eltern. Aber seine Mutter ist gestorben, und sein Vater nur kurze Zeit nach ihr. Als der Leser Kim kennenlernt, ist er Waise unter der sehr nachlässigen Obhut einer hinduistischen Waschfrau. Weder hat er mehr Geld, noch hat er mehr Erziehung erhalten, als irgendeiner der Strassenjungen um ihn herum. Er kann kaum lesen und schreiben. Die lokale Umgangssprache spricht er perfekt; das einst bei den leiblichen Eltern gelernte Englisch hat er fast völlig vergessen. Seine Freunde sind ein muslimischer Afghane, der als Pferdehändler durchs Land reist, ein buddhistischer Lama aus dem Tibet, der auf der Suche nach Erleuchtung durchs Land reist, und ein bengalischer Babu unbestimmten Glaubens, der aus unbestimmten Gründen durchs Land reist. Wer Kim in den Strassen Lahores herumlungern sieht, glaubt einen Eingeborenen vor sich zu haben.

Dass sich dieses Leben radikal ändert, hat mit einer Aussage von Kims Vater zu tun, die Kim als Prophezeihung auslegt, und der er bedingungslos folgt. Als er zufällig auf das Regiment seines Vaters stösst (ohne zu wissen, dass es ebendieses Regiment ist), entpuppt sich der Inhalt des Amuletts, das er seit jeher um den Hals trägt, als seine Geburtsurkunde und eine in freimaurerischen Formeln gehaltene Bitte um Unterstützung für Kim. Aus Kim wird wieder Kimball O’Hara; er besucht nunmehr ein katholisches Internat in Indien. Da er schon früh als Bote des afghanischen Pferdehändlers tätig war, der nicht nur Pferdehändler ist, sondern auch Agent des britischen Geheimdienstes, und – cleveres Bürschchen, der er ist – auch gemerkt hat, was er tut und richtige Schlüsse daraus gezogen hat, ist es keine Frage, dass er schon mit 16 oder 17 ebenfalls für geheimdienstliche Aktivitäten herangezogen wird. So ist es Kim, der zwei russischen Agenten im Grossen Spiel (the Great Game nennt Kipling die mal mehr, mal weniger kriegerisch gehaltene Auseinandersetzung zwischen Grossbritannien und dem russischen Kaiserreich um den indischen Subkontinent) die Suppe versalzt. Schon fast nebenbei verhilft er seinem Lama-Freund zu Erleuchtung, zur Erlösung vom Rad des Lebens. Diese wird im vorletzten Kapitel des Roman geschildert, und wir erfahren nicht, ob Kim weiterhin als Jünger des nunmehr Erleuchteten, bzw. nach dessen Tod selber als Suchender unterwegs sein wird, oder ob er seine Tätigkeit im britischen Geheimdienst fortführt.

Die obige Zusammenfassung zeigt schon, hoffe ich, dass auch eine Qualifikation des Romans Kim nicht möglich ist. Jugendroman? Insofern, als der Protagonist ein Jugendlicher ist; als er spannende, aber nicht grausame Abenteuer erlebt; als Sex keine Rolle spielt (der einzige geschilderte Besuch Kims bei einer Prostituierten dient dazu, sich ihre Schminkkünst zu Nutze zu machen und sich vom hellen Sahib zum dunklen Indigenen zu verwandeln): Ja. Abenteuerroman: Ja, Kim führt ein abenteuerliches Leben. Entwicklungsroman: Ja, Kim macht eine gewisse, nicht einmal unbeträchtliche Entwicklung durch. Aber das Buch kann auch sehr wohl von Erwachsenen gelesen werden (ein Mangel an schriftlich geschilderter Kopulation macht ein Buch nicht unbedingt schlecht – im Gegenteil). Auch Abenteuer sind da, aber wichtiger ist immer das Thema ‘Freundschaft’, denn es ist immer die Freundschaft, die Kim in seine Abenteuer zieht. Und Kims Entwicklung ist unterm Strich dann auch nicht so gross, dass sie (wie z.B. bei Wilhelm Meister) zur Kernaussage des Romans würde.

Auch die auch schon angetroffene Qualifizierung als ‘kolonialistischer Roman’ ist fragwürdig. Kipling gilt als kolonialistischer Autor, was mich – nebenbei gesagt – jahrelang an einer Lektüre gehindert hat. Ich tat ihm Unrecht. Kipling betrachtet das Problem der Kolonialisierung sehr differenziert – auch in diesem Roman. Die Herkunft Kims, die selbst dann sehr gescheckt gewesen wäre, wenn er nicht noch im indischen Alltag verloren gegangen wäre, und die aus ihm alles andere macht, als einen typisch englischen Kolonialherren; die liebevolle und vorurteilslose Schilderung des indischen Lebens; die lustvollen Schilderungen (Kipling häuft Adjektiv auf Adjektiv, um verschiedene Farben des indischen Strassenlebens zu zeichnen): Nein, Kipling war zwar der Meinung, dass die Kolonien die Bürde des weissen Mannes geworden sind, nachdem er es schon mal auf sich genommen hat, Regionen wie Indien zu beherrschen. Aber schon der Begriff ‘Bürde’ macht im Grunde genommen klar: So ganz und einfach positiv betrachtet Kipling die Sache nicht. Die Bürde besteht dann darin, dass nun der Weisse dafür verantwortlich zeichnet, in von ständigen internen Querelen durchzogenen Gebieten wie dem indischen Subkontinent für Ruhe und Sicherheit zu sorgen. Nicht von ungefähr ist die indische Kolonie schon bald nach der Unabhängigkeit in zwei Staaten auseinander gefallen – Indien und Pakistan. (Lahore, Kims – und auch Rudyard Kiplings! – Heimatstadt liegt im heutigen Pakistan.) Ja, Pakistan ist wiederum auseinandergebrochen. Und bis heute machen blutige Differrenzen zwischen Hindus und Muslimen die Grenze zwischen Indien und Pakistan unsicher – Differenzen, die von den Briten unterdrückt worden waren; Differenzen, die wohl auch im gemeinsamen Hass gegen den Kolonialherren untergegangen sind. Richard Katz, der seinen Kipling wohl gelesen hatte, wusste noch nach dem Ersten Weltkrieg, dass der Einheimische Asiens lieber in Krieg und Unterdrückung, in blutigen eigenen Verhältnissen, leben wollte, als in Frieden und Sicherheit unter europäischer Herrschaft. Man mag diese Haltung kolonialistisch nennen, und sie ist es auch: Aber Kipling und Katz erkannten als Alternativen für den Europäer nur, entweder diese Bürde weiterzutragen (mit potentiellem grossem Blutverlust auch für die Europäer), oder sie fallen zu lassen (und den Blutverlust komplett auf die Einheimischen zu verlagern).

Das alles spielt in Kim aber nur ganz, ganz am Rande mit. Kim ist vor allem eine prächtige (und prächtig gelungene) Liebeserklärung an ein Land. Und deshalb eine empfehlenswerte Lektüre auch für Erwachsene.

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