Die Autorin war die erste, die die Wahrheit über diesen Krieg öffentlich machte – und sie wurde, nicht weiter überraschend, auch in postsowjetischen Zeiten dafür angefeindet. Die „Afghanen“ (so die Bezeichnung für all jene, die dort Dienst getan hatten) sahen sich in ihrer Ehre gekränkt, die Mütter ihre Söhne verunglimpft, die Nationalisten in ihrem Stolz (worauf eigentlich) verletzt. Die letzten 60 Seiten des Buches berichten von dem gegen die Autorin angestrengten Prozess (in dem einige von jenen, die zuerst zu Interviews bereit gewesen waren, sich als falsch verstanden darstellten, nicht merkend, dass sie bereits wieder von einer Staatsnomenklatura vereinnahmt und zum zweiten Mal Opfer wurden), von den Anfeindungen, die erhoben wurden, aber auch von Verteidigungen, etwa von seiten des russischen Ablegers des PEN-Clubs, etwas, das heute kaum noch vorstellbar erscheint. Und von der Verlogenheit eines sich bereits dem Nationalismus mehr und mehr zuneigenden Machtapparats, der nach dem plötzlichen Verlust des Weltmachtstatus nun um Konsolidierung bemüht war und alle Anklagen als unpatriotisch zurückwies.
Denn das Buch selbst, die Berichte der Betroffenen, lassen keine Zweifel darüber aufkommen, dass es sich hier um einen völlig sinnlosen (gibt es sinnvolle Kriege? – vielleicht, wahrscheinlich, wenn man sich des österreichischen Postkartenmalers entsinnt) und verbrecherischen Krieg handelte, für den vor allem Jugendliche (häufig verblendet, ansonsten gezwungen) rekrutiert wurden. Diesen Menschen (und deren Angehörigen) eine Stimme zu leihen ist die Autorin angetreten, sie ist eine „Historikerin des Spurlosen“, all jener, die in keinem Geschichtsbuch Erwähnung finden, die „Brechtsche Masse“ von Alexanders Heer. Die Interviews sind von tiefer, schmerzender Authentizität, sie zeugen von all den physischen und psychischen Verletzungen durch die Barbarei, immer wiederkehrend der Satz: „Nach meiner Rückkehr war ich ein anderer, war die Welt eine andere.“ Nichts von Heldentum, ganz selten etwas Mitmenschlichkeit, zumeist aber nur das brutale Recht des Stärkeren (auch innerhalb des Militärs – und wer je „gedient“ hat, weiß, dass man sich in solchen Organisationen hüten muss, zu den Schwächeren zu gehörten), Überlebenwollen um jeden Preis in der Apokalypse. Dazwischen immer wieder Gespräche mit den Daheimgebliebenen, mit Müttern, die um ihre Kinder bangen, Ehefrauen, die auf den Mann und Vater warten. Die Angst vor dem Klopfen an der Tür, die dürre Nachricht „im Kampf tapfer für seine internationalistische Pflicht gefallen“, einige Floskeln noch, dahinter der Zinnsarg. Darin oft nur noch einige Fleischfetzen, der Sarg aufgefüllt mit Erde, um das Gewicht vorzutäuschen. Jugendliche, fast noch Kinder, deren Leben erst begonnen hatte. „Er hatte sich doch noch nicht einmal rasiert!“
Manchmal der Gedanke: Wenn solche Bücher doch nur von allen, die da Entscheidungen zu treffen haben, gelesen würden – dann … Ja, dann – was? Nichts, wie man aus dem Prozess gegen Aleksievic entnehmen kann, denn das darf so nicht wahr sein, muss und kann anders, ganz anders begründet werden. Je mehr Zeit vergeht von einem Opfergang zum nächsten, desto schneller werden aus jugendlichen Opfern wieder Helden, auf die selbst die zuvor weindenden Mütter wieder stolz zu sein vorgeben. Aber einige wenige könnten doch zum Nachdenken angeregt werden – und vor allem den Verfechtern des – zumeist männlichen – Heldentums sollte das Buch ans Herz gelegt werden. Denn der Krieg ist so banal, grausam und entwürdigend, wie die Autorin ihn beschreibt, wer ihn überlebt (ohne Arme, ohne Beine und schlaflos für Jahre), ist kein Heros, sondern ein psychisches Wrack, der sich seine Instrumentalisierung als Held gefallen lassen muss, um ein klein wenig Selbstachtung zu bewahren. – Ein großartiges Buch!
Aleksievic, Svetlana A.: Zinkjungen. München: Hanser 2014.
Zwei Kommentare: 1. Das hier angesprochene Problem der Rückkehr traumatisierter Soldaten aus einem als sinnlos empfundenen Krieg betrifft auch Bundeswehrangehörige, die nach 2001 in Afghanistan eingesetzt wurden. Die Begründung lautete zuerst: Solidarität mit Amerika in G. Bushs nach dem Anschlag vom 11. September verkündeten „Krieg gegen den Terror“, dann wollte man irgendwie Demokratie in Afghanistan einführen und Deutschlands Sicherheit „am Hindukusch verteidigen“. Die Stammeskämpfer, mit denen schon die sowjetische Armee zu tun hatte, verfolgten jeweils eigene Interessen, in immer neuen Wellen fielen Talibanangehörige über die von Regierungstruppen gehaltenen Befestigungen her, die von der Zivilbevölkerung nicht zu unterscheiden waren. Die Engländer konnten sich nicht in Afghanistan festsetzen, die Russen nicht und die ausländischen Truppen in der Gegenwart können es auch nicht. Zwar sind im Vergleich zu den sowjetischen Einheiten die Menschenverluste bei der Bundeswehr vergleichsweise „gering“, doch ist jedes Menschenleben wertvoll. Kriegsrückkehrer erzählten mir von der Situation: „Was machst Du, wenn ein Kind mit einem Sprengstoffgürtel (oder einem Teil, das so ähnlich aussieht) auf Deine Einheit, Deine Kameraden zukommt?“ Auf so eine Kriegführung war man nicht vorbereitet. Auf die posttraumatische Belastungsstörung ausgebildete Ärzte und Psychologen reichen bei weitem nicht, da schon die Zunahme der Brutalisierung im Land selbst zunehmend nach solchen Spezialisten verlangt.
In der Bundesrepublik wurde nie eine öffentliche Debatte über Kriegsziele außerhalb des NATO-Bündnisgebietes und des Geltungsbereiches des Grundgesetzes geführt, erst sehr spät wurde der Krieg überhaupt Krieg genannt. Die Ihr in der Schweiz lebt, könnt froh sein ob der Neutralität. Wir DDR-Bürger wurden „wiedervereinigt“ mit einem Land, das zur NATO gehörte, jedoch 1990 noch in keine Kriege verwickelt war.
2. Tausende DDR-Bürger waren ebenfalls in den 1970er Jahren in unerklärten Stellvertreterkriegen im Einsatz, als Militärberater in vielen Ländern. Der Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979, dem selbst in der sowjetischen Führung, wenn auch zaghaft widersprochen wurde (so sicher war sich L.I. Brezhnew anfänglich nicht), sollte beeindrucken: Im Minutentakt langten in Anwesenheit ausländischer Botschafter auf dem Flugplatz in Kabul die sowjetischen Militärmaschinen mit Soldaten und Kriegsgerät. Man war rasch in einem Krieg, wie würde man aber nach entsprechendem Engagement wieder herauskommen, wie sollte die Friedenslösung aussehen.
Wenn man auf die politische Landkarte blickte, dann waren auf mehreren Kontinenten Regimes an der Macht, die sich als „marxistisch-leninistisch“ bezeichneten, wie die Gruppe um Babrak Karmal, die gerade in Afghanistan an der Macht war. In der Volksdemokratischen Republik Jemen machten sich die Marxisten-Leninisten untereinander nieder (heute brauchen sie nicht mehr einen solchen ideologischen Mantel. In Afrika folgten Guinea, die ehemaligen portugiesischen Kolonien Guinea-Bissau, die Volksrepubliken Angola und Mozambique, Äthiopien, die Volksrepubliken Kongo(-Brazzaville), Madagaskar (unter Didier Ratsiraka), Benin dem sowjetischen Kurs, in Asien das wiedervereinigte Vietnam und Laos, in Mittel- und Lateinamerika Kuba und seit 1979 Nikaragua. In Syrien und im Irak bildete die DDR Armeeangehörige, Siocherheitskräfte und Lehrer aus – es ist kein Zufall, dass gerade in diesen beiden heute verwüsteten Ländern ein säkularisiertes Schulwesen aufgebaut worden war. Kurzum: der Einfall in Afghanistan 1979 mag als sinnlos erscheinen, wenn man vom Ende her auf den Ausgang des Krieges 1989 schaut. Die Sowjetunion wollte der Kette von Verbündeten ein weiteres Glied hinzufügen. Afghanistan hatte zwar weniger Bodenschätze als etwa der Irak (Losung beim 1. Golfkrieg 1991: „Kein Blut für Öl“; 2003 in Berlin eine Million Demonstranten gegen Bushs Kriegspläne), jedoch eine strategische Bedeutung im Herzen Asiens, in der Nähe der „Seidenstraße“. Die Chinesen können zusehen, wie sich Russen, Amerikaner und Europäer in Afghanistan militärisch verausgaben, das noch nie eine Kolonie war und nicht dauerhaft besetzt werden kann, und dann in der Wirtschaft „übernehmen“.
Eine Richtigstellung: „litteratur.ch“ hat zwar eine Schweizer Domain, ich bin allerdings Österreicher, damit zwar auch Bürger eines neutralen Staates, dessen (einst erzwungene) Neutralität aber gänzlich andere Ursprünge als die der Schweiz hat (mittlerweile ist sie zu einem bequemen Feigenblatt geworden, auf das man sich bei Bedarf beruft). Neutralität ist möglicherweise positiv, sehr häufig bedeutet sie aber auch Feigheit oder Angst, Stellung beziehen zu müssen.
Das Problem heimkehrender (traumatisierter) Soldaten ist das Problem des Krieges. Und dieser wiederum Ausdruck von Hilflosigkeit (in positiv konnotierter Lesart) oder von Machtgier, dem Kampf um Einfluss(-gebiete). Mittlerweile ist Afghanistan nicht mehr „lösbar“: Selbst unter Annahme größter Bereitwilligkeit der Parteien zum Frieden scheint ein solcher unerreichbar, erreichbar vielleicht das Ziel von ein paar Toten weniger. Aber der Weg zu einem solchen Minimalziel ist mit unzähligen Minen (und Kindersoldaten) gepflastert. Vielleicht wäre im übrigen ein vergleichbares Interviewbuch heimkehrender deutscher Soldaten eine Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
Der ideologische Mantel der Jemeniten ist ein sunnitisch-schiitischer geworden, ein Stellvertreterkrieg reinsten Wassers (des Iran und Saudi-Arabiens). – Die „Sinnlosigkeit“ wollte ich nicht auf das Ergebnis bezogen wissen, sondern eher auf Vermeidbarkeit (das war im Zweiten Weltkrieg anders, gegen Hitler zu kämpfer konnte man nicht vermeiden). Selbstverständlich stehen hinter all diesen Konflikten rationale Begründungen, die zumeist recht trivial auf größere ökonomische/politsche Macht hinauslaufen; verbrämt werden diese Ziele mit Begriffen wie Freiheit oder Demokratie. Damit wird eine Klarheit (in der Position) suggeriert, die Begriffen niemals zukommt: So ist die Freiheit des einen häufig Unfreiheit des anderen. Derlei Spitzfindigkeiten (bzw. Banalitäten) sind aber nirgends gern gesehen, das verunsichert nur.