Svetlana A. Aleksievic: Im Banne des Todes

Viele dieser Geschichten haben Aufnahme in den Band “Secondhand-Zeit gefunden, weshalb ich mit Fug und Recht auf diese Besprechung verweisen kann. Das, was die einzelnen Kapitel von “Im Banne des Todes” zusammenhält, ist der Bezug zum Selbstmord: Dem versuchten, von dem die Überlebenden erzählen, dem von Angehörigen, von Freunden, Bekannten. Und es scheint eine spezifische Verzweiflung gewesen zu sein, die diese Menschen den Tod hat suchen lassen, die Verzweiflung einer Umbruchszeit, in der alles in Frage gestellt wurde und nichts auf seinem Platz blieb.

Die Selbstmörder sind zwischen 14 und 87 Jahren alt – und so unterschiedlich sind die Motive. Der 14jährige Junge, von dem seine Mutter erzählt, fällt ein wenig aus der Reihe: Er scheint ein fast pathologisch zu nennendes Verhältnis zum Tode gehabt zu haben, das mit den gesellschaftlichen Umbrüchen in einem nur losen Zusammenhang stand. Anders all jene, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, dort sozialisiert wurden und nach 1989 vor den Trümmern ihrer materiellen als auch – und noch wichtiger – geistigen Existenz standen. Aufgewachsen im Sinne des sozialistischen Traumes, begeistert von dem Zusammenhalt, dem Leben im Kollektiv sehen sie sich plötzlich mit der Anschuldigung konfrontiert, dass ihr gesamtes Leben Lüge, Feigheit gewesen sei. Nichts soll von Bedeutung gewesen sein, kein Aufbruch in eine neue Welt, in eine gerechte Gesellschaft, sondern einzig systemtatische Unterdrückung, Mangelwirtschaft. Die plötzliche Freiheit bringt Verantwortung mit sich, die man bislang an die nächsthöhere Stelle delegierte, sie führt zu Verunsicherung und Angst: War bislang alles bestimmten Regeln unterworfen, wurde ein – wenn auch ärmliches – Dasein garantiert, wird nun plötzlich Eigeninitiative gefordert, Selbständigkeit, etwas, das im kollektiven Denken verpönt war.

Dieses sowjetische Leben war vom Krieg bestimmt, vom großen vaterländischen Krieg, den gewonnen zu haben man auch 45 Jahre danach noch stolz war, von den Bedrohungen (realen und eingebildeten), denen man sich von Seiten des Westens ausgesetzt sah. Der Militarismus als Klammer der Gesellschaft, Menschen, die alles auf den vergangenen oder zukünftigen Krieg beziehen, deren Leben ohne Kampf, Tod nicht vorstellbar erscheint. Statt stolzem Großmachtstreben verkaufen Offiziere nun ihre Orden und Auszeichnungen auf dem Markt gegen Dollars, eine ganze Generation, Nation wird zum Versager gestempelt. Diesen Bruch zu überleben gelingt nicht nicht allen, je älter, je weniger kann man sich an die neuen Strukturen anpassen. Und die Härte der neuen Zeit lässt die Vergangenheit in anderem Licht erscheinen: Trotz stalinistischer Gräuel war man irgendwie vereint, Zwang und Denunziation erscheinen als beklagenswerte Übel, nicht aber als systemimmanent. Beeindruckend etwa der 87jährige, der seine Frau im stalinistischen Gulag verloren hat, der selbst eingekerkert war, dem Lager nur durch freiwillige Meldung zum Kriegsdienst entkommen konnte und für den der schönste Tag jener war, als er nach dem Krieg wieder sein Parteibuch erhielt. Er kann es nicht erklären, “ich begreife nur erneut, dass ich aus einem anderen Leben komme”.

Tatsächlich ist das nicht zu verstehen. Man verzeiht den Tod der eigenen geliebten Frau einer offenkundig korrupten Partei, einem Ideal folgend, dessen Fragwürdigkeit längst nicht mehr geleugnet werden kann. Und – für mich persönlich stets ausnehmend schwer nachvollziehbar – man träumt von einem Kollektiv, von einer Gemeinsamkeit, in der der einzelne aufgeht in den gemeinsamen Absichten, Plänen und im Grunde völlig unbedeutend ist. Ein solches Leben ist nicht zu begreifen für jemanden, der – wie ich – sich selbst im Fußball- oder Schachverein (beides kann man professionell nur spielen, wenn man in einem Verein Mitglied ist) äußerst unwohl gefühlt hat, der sich geweigert hat, einen gemeinsamen Schlachtruf mitzubrüllen oder die Hand um die Schultern eines Mitspielers zu legen, weil er immer selbst entscheiden wollte, wem denn seine Freundschaft gelten sollte. Eine Freundschaft, die von einer zufälligen Mitgliedschaft unabhängig war, sein musste. Damit soll nicht behauptet werden, dass eine solche Gemeinschaft per se schlecht wäre: Sondern nur, dass in mir dieses Zugehörigkeitsdenken stets Skepsis, Widerwillen, auch Angst ausgelöst hat (vielleicht nicht immer zu Recht). Und so stehe ich vor diesem – von der Autorin brilliant geschilderten – russischen Menschen mit Verwunderung und Unverständnis. Kein theoretisches Unverständnis, mir sind gruppendynamischen Effekte durchaus bekannt, sondern ein emotionales, gefühltes. (Mit mir ist kein Staat zu machen …)


Svetlana A. Aleksievic: Im Banne des Todes. Frankfurt a. M.: Fischer 1994.

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