Joachim Kahl: Das Elend des Christentums

Kahl beschreibt in diesem Buch sein eigenes Renegatentum: Schon während seines Theologiestudiums sind ihm Zweifel gekommen an der christlichen Religion, nach Abschluss desselben ist er aus der (protestantischen) Kirche ausgetreten. Aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit und der Moral.

Das Buch ist vor 50 Jahren erschienen und mag damals einiges an Aktualität besessen haben: Der heute mit der atheistischen Literatur einigermaßen Vertraute wird nicht viel Neues finden. Kahl geht auf die geschichtlichen Folgen des Christentums ein, die Bejahung der Sklaverei, seine Vorreiterrolle in der Judenverfolgung, die zahlreichen innerkirchlichen Auseinandersetzungen in der Spätantike, die aus Gründen der Ketzerverfolgung im Hochmittelalter entstandene Inquisition und auch die späteren Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten. Diese „Kriminalgschichte“ ist mittlerweile – zumindest in religionskritischen Kreisen – unbestritten und kann als – immer wieder mal notwendige – mahnende Erinnerung betrachtet werden.

Dann zeigt der Autor die Fragwürdigkeit der Überlieferung des Neuen Testamentes auf (man vergisst häufig die Tatsache, dass das älteste Markus-Evangelium rund 40 Jahre nach dem Tode Jesu entstanden ist, was in einer weitgehend illiteraten Zeit eine auch nur annähernd historisch präzise Wiedergabe der Ereignisse verunmöglicht (abgesehen von der Tatsache, dass diese Überlieferung durch die Anhänger der Religion getragen wurde)), auf die daraus folgende Unmöglichkeit, „Worte Jesu“ zu rekonstruieren; er weist auf die moralisch-ethische Fragwürdigkeit sowohl des Alten als auch des Neuen Testamentes hin (die beide keineswegs geeignet sind, als ethische Richtschnur zu dienen), auf die Frauen- und Sexualfeindlichkeit der Schriften, die antiquierte Rechtsauffassung.

Im zweiten Teil beschreibt er dann die diversen theologischen Strategien, um die christliche Religion auch in unserer Zeit noch aktuell zu halten: Das mündet teilweise in unerquickliche, langwierige (und sehr langweilige) Analysen über die Unredlichkeit und Abgehobenheit dieser Theologen. Diese exegeischen Auseinandersetzung sind so dumm wie überflüssig; sie hatten natürlich für den gerade in Theologie promovierten Kahl Bedeutung, sind aber mit ihren Leerformeln einer rationalen Kritik gar nicht zugängig. Ähnlich verhält es sich auch mit dem im (zwanzig Jahre später geschriebenen) Nachwort dargestellten Eugen Drewermann: Dieser ist der fleischgewordene Beweis dafür, dass (vorgebliche?) Erneuerer des Christentums zwar ungustiöse Entwicklungen anprangern, an der Grunddummheit aber nichts zu ändern wünschen (Drewermanns Gerede über symbolische Jungfräulichkeit oder Himmelfahrt ist einfach nur dämlich, bei Hans Küng ist das ähnlich).

Interessant ist hingegen das ebenfalls 1993 geschriebene Vorwort: Hier äußert sich Kahl sehr kritisch über seinen weiteren Lebensweg, hat er doch die christliche Heilsbotschaft gegen die marxistische eingetauscht und dieser Ideologie über zwei Jahrzehnte gehuldigt. So liest man: „Wie stark sich die mentale Struktur der Gläubigkeit aus meiner christlich-theologischen Zeit in meine marxistische Phase hinüber durchgehalten hat, irritiert mich. Es entbehrt nicht der Komik, daß die klassischen Glaubensdefinitionen des Neuen Testamentes als Deutungsmuster dienen können für die Bereitschaft, sich täuschen zu lassen und in utopische Illusionen zu fliehen.“ Ich finde nun eine solche Entwicklung weniger überraschend: Immer wieder habe ich zur Kenntnis nehmen müssen, dass Menschen eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzen, dass es in ideologischer Hinsicht nicht so sehr um den Inhalt, sondern um die Bequemlichkeit der Heteronomie geht, um quasi göttliches Schrifttum, das für alles und jedes eine Antwort bietet. (Diskussionen mit Marxisten verlaufen im Regelfall nach ganz ähnlichen Schemata wie solche mit religiösen Fundamentalisten.) Trotzdem verdient Kahls Offenheit in dieser Frage Anerkennung, wobei er für seine „Irrungen und Wirrungen“ auch ein probates Mittel bereithält: „Dass nur mit Humor die Welt sich ertragen lässt, mit einem Lebensgefühl des Trotzalledem, geboren aus Trauer, Zorn und Heiterkeit.“ Und Selbstironie – möchte man noch hinzufügen.


Joachim Kahl: Das Elend des Christentums. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993.

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