Die Halt- und Ruhelosigkeit des ehemaligen Gefängnisinsassen in seiner neuen Freiheit wird eingängig dargestellt, dieses neue Leben erscheint ihm fremd und seltsam. Er absolviert Verwandtenbesuche, trifft Knastbrüder, Bekannte: Aber die allermeisten werden in seinem Notizbuch mit einem Minus versehen. Schließlich ergibt sich die Möglichkeit, anstatt eines evangelischen Pastors (der eine anderweitige Reise unternimmt) nach Locarno zu einem Kirchentreffen zu fahren. Wiewohl auch dort fremd, entsteht daraus die Möglichkeit, als Betreuer für schwererziehbare Kinder zu arbeiten: Ein erster Einstieg. Und es gelingt ihm schließlich, an der pädagogischen Hochschule in Göttingen aufgenommen zu werden und damit den Weg zu einer gesicherten bürgerlichen Existenz zu beschreiten.
Dieser letzte Teil wirkte teilweise unangenehm auf mich: Die Nähe zu Kirchenkreisen, zu einer biederen Bürgerlichkeit oder auch die nichtvorhandene Scheu, mit ehemaligen SS-Mitgliedern Umgang zu pflegen bzw. Bittbriefe an christliche Organisationen (die ohnehin zumeist unbeantwortet bleiben) lassen eine gewisse Nonchalance im Umgang mit anderen erkennen. Und die Schilderung des Göttinger Studentenlebens mag auch nicht wirklich zu begeistern: Das wird einigermaßen humorig erzählt, geht aber über die Beschreibung der erotischen Nöte Kempowskis bzw. seiner Kommilitonen nicht hinaus. Alles endet dann tatsächlich in kleinem bürgerlichen Glück, Walter verlobt sich mit einer Pastorentochter, sein Bruder wird entlassen und es kommt zu einem großen, abschließenden Familienfest, auf dem das Jahrhundert noch einmal rekapituliert wird.
In diesem letzten Band gelingt es Kempowski nicht wie in den Bänden zuvor, durch bloß nüchterne Beschreibung ein Bild der historisch-gesellschaftlichen Umstände entstehen zu lassen (vielleicht liegt der Grund hiefür auch in dem geringer werdenden Zeitabstand vom Erzählten). Gut und souverän gemacht ist das allemal, aber es fehlt jener Esprit, auch jene objektivierende Unberührtheit, die die ersten Bände zu einem Lesegenuss werden ließen. Insgesamt aber sind diese neun Bände die Lektüre in jedem Fall wert: Es ist tatsächlich eine spezifisch deutsche Chronik, eine Aufbereitung des Schicksals jener Bevölkerung, die in den etwa 70 Jahren (von 1890 bis 1960) zwei Weltkriege, zwei Diktaturen und diverse ökonomische Krisen zu erleben gezwungen waren. Gelungen vor allem auch die sprachliche Aufbereitung: Die Kommunikationsmuster innerhalb der Familie werden mit sehr viel Feingefühl (und paradigmatisch für viele andere solche sich durch ein spezifisches Idiom auszeichnende Gruppen) dargestellt, zu meinem Leidwesen vermochte ich den im Dialekt eingefügten Besonderheiten als Österreicher nicht immer zu folgen. Und es ist gerade diese Art der Sprache, die eine Klammer um alle die Romane fügt, die sie verbindet, immer wieder auf Vergangenes Bezug nimmt und auf eine Art von Kontinuität im Erleben hinweist. Für mich hat sich die Lektüre gelohnt, sie war unterhaltend, klug und stilistisch mehr als gelungen.
Walter Kempowski: Herzlich willkommen. München, Hamburg: Knaus 1984.