Briefe von und an Lessing 1770-1776

1770: Lessing wirft das Handtuch. Er gibt auf. Er erklärt seinen Versuch, als freier Schriftsteller nur vom Ertrag seiner Feder zu leben, als gescheitert. Denn, als ihm der Posten eines Bibliothekars an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel angeboten wird, schlägt er ein. Es ist (wie er sich wohl gesagt hat), von allen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, die mit den am wenigsten unangenehmen Konsequenzen. Immerhin würde die Bibliothek ihm die Möglichkeit ausgedehnter Studien bieten.

Tatsächlich finden wir Lessing sehr schnell in Studien alter Manuskripte vertieft. Er gibt einen Text des Berengar von Tours heraus und sein Briefwechsel konzentriert sich nun häufig auf philologische Fragen. Im Grunde genommen fällt er zurück in den Stand des humanistischen Renaissance-Gelehrten. Er diskutiert mit andern Altphilologen (z.B.) über Äsop-Editionen von (z.B.) Lorenzo Valla oder Willibald Pirckheimer. Mit andern Worten: Er verschwendet sein Talent. Von seinen diesbezüglichen Briefpartnern ist es einzig Christian Gottlob Heyne, der das sieht und Lessing auch zum Vorwurf macht.

Auch sonst nimmt Lessings Briefwechsel in den Jahren von 1770 bis 1776 eine andere Färbung an:

Sein Vater stirbt. Damit fallen die Lessing unangenehmen Bitt- und Klagebrief aus Kamenz aber nicht weg, im Gegenteil: Mutter und Schwester schreiben nun an des Vaters Statt. Und sie klagen und betteln noch mehr. Lessing ist selber in finanziellen Nöten und antwortet deshalb – nicht. Überhaupt stellt sich heraus, dass nicht nur sein Gehalt zu klein ist. Er realisiert auch, dass in Wolfenbüttel gesellschaftlich-kulturell nichts zu holen ist. Auch das benachbarte, ein wenig grössere Braunschweig, in das Lessing von Zeit zu Zeit fährt, bietet wenig mehr. Und weiter weg darf Lessing eigentlich nicht, denn – anders als Leibniz, der zu seiner Zeit auch die Bibliothek in Wolfenbüttel verwaltete, dies aber nur im Nebenamt und ohne Verpflichtung, dort zu wohnen – muss Lessing in Wolfenbüttel zur Stelle sein, wenn es seinen Fürsten Karl ankommt, einige Bücher für sich zu bestellen oder wenn er bei ausländischen Besuchern die Honneurs machen muss. (Eine dieser ausländischen Besucherinnen ist übrigens die Herzogin von Weimar, aber die einzige Spur, die sie im Briefwechsel hinterlassen hat, ist Karls Befehl an Lessing, sie in der Bibliothek herumzuführen. Für Lessing war sie wohl nur eine störende Besucherin unter vielen; er erwähnt sie in seinen Briefen nirgends. Hat er sich eine Chance entgehen lassen? Wir wissen es nicht.)

Mit seinen alten Berliner Freunden Mendelssohn und Nicolai hat er nur noch lockeren Kontakt. Als Statthalter in Berlin und Vermittler der literarisch-kulturellen Entwicklungen dient ihm sein Bruder Karl. Der ist es auch, der ihn als erster auf ein neu erschienenes merkwürdiges (d.h. auch: ‚des Aufmerkens würdiges‘!) Drama mit dem Titel Götz von Berlichingen hinweist – den Autor hat Karl gerade vergessen. Und Karl ist es auch, der, quasi im Namen der (alten Berliner) Aufklärung, ein Pamphlet gegen diese neue Art des Dramas veröffentlichen will, als mit J. M. R. Lenz der erste Nachahmer Goethes auf den Plan tritt. Wobei Karl vor allem auf die Nachahmer zielt, beim Original sieht er durchaus Qualitäten. Gotthold Ephraim ist – nicht zuletzt wegen Goethes Angriff auf Wieland in Götter, Helden und Wieland – auch das Original zuwider, aber er rät Karl davon ab, sich mit den Stürmern und Drängern abzugeben. Wielands Reaktion auf Goethes Pamphlet, nebenbei, versteht Lessing nicht. Im Übrigen antwortet er aber auf Briefe von Herder oder Wieland nicht oder nur mit allgemein-oberflächlichen Phrasen. Hier lässt er sich wohl zumindest die Möglichkeit eines gehaltvolleren Briefwechsels entgehen.

Ganz allgemein ist Lessing in der Epoche zwischen 1770 und 1776 hypochondrisch, schlecht gelaunt. Sein Gehalt ist zu klein; sein Job – so lange er nicht in alten Handschriften wühlen kann – befriedigt so wenig wie die allgemeine Situation in Wolfenbüttel. Für seinen Landesherrn ist er ein Bediensteter unter vielen. An der schlechten Laune Lessings (und an dessen Situation) ändert auch Eva König wenig. Der Umzug nach Wolfenbüttel bringt sie als Briefpartnerin ins Spiel. Lessing kennt die Frau schon seit längerem, jetzt, wo er nicht mehr in Hamburg lebt, setzt der Briefwechsel ein. Doch Liebesbriefe sehen anders aus. Lessing schlägt ihr gegenüber nur selten einen andern Ton an, als er es (z.B.) gegenüber Moses Mendelssohn tut. Und seine Unzufriedenheit kann Eva König auch nicht abfangen. Mit dem Erbe ihres Mannes und mit ihren Kindern hat sie genug eigene Probleme, mit denen sie Lessing zusätzlich belastet. Last but not least ist auch sie eine Briefpartnerin, die – wie Mutter und Schwester – regelmässige Antworten einfordert, und – wenn sie einmal keine sofortige Antwort erhält – Lessing mit ihren Ängsten, er sei krank oder tot, unter Druck setzt. Dass es 1776 dennoch zur Heirat kommt, grenzt für mich an ein Wunder.

Mit der Heirat endet auch Band 2 der Briefe von und an Lessing. (Das ist die Bibliothek der deutschen Klassiker, Band 16, herausgegeben von Helmuth Kiesel et al. Frankfurt/M: Deutscher Klassikerverlag, 1988.)

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