Meine Freude war nur kurz. Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft, mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiss, was ich sage! – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen musste? daß er so bald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. (Lessing an Eschenburg, 31. Dezember 1777)
Dieser Brief ist wohl einer der berühmtesten Briefe in deutscher Sprache und hat Lessings Ruhm als Briefschreiber begründet. Einzig vielleicht der wenig später folgende, noch kürzere Brief Lessings an denselben Freund, in dem er ihm den Tod nun auch noch seiner Frau mitteilt (nachdem er zwischendurch Hoffnung hatte, zumindest Eva würde überleben), kann mit obigem Brief verglichen werden:
Meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht. (Lessing an Eschenburg, 10. Jenner 1778)
Dabei sind beide Briefe völlig untypisch für Lessing. Wir haben schon gesehen, wie selbst die Briefe an Eva König nüchtern und fast geschäftsmässig klangen. Und schon im Januar 1778 – Eva lebt noch – schreibt Lessing auf eine nicht erhaltene Antwort Eschenburgs zurück:
Ich kann mich kaum erinnern, was für ein tragischer Brief das kann gewesen sein, den ich Ihnen soll geschrieben haben. Ich schäme mich herzlich, wenn er das geringste von Verzweiflung verrät. Auch ist nicht Verzweiflung, sondern vielmehr Leichtsinn mein Fehler, der sich manchmal nur ein wenig bitter und menschenfeindlich ausdrückt. Meine Freunde müssen mich nun ferner schon dulden, wie ich bin. (Lessing an Eschenburg, 7. Jenner 1778)
Tatsächlich wird Lessing in seinen letzten Jahren noch bitterer, noch menschenfeindlicher. Der Versuch, als Leiter eines Nationaltheaters in Mannheim Fuss zu fassen, scheitert an lokalen Intrigen: Man redet dem prospektiven Leiter schon hinein, bevor er im Amt ist. (1779 sollte Wieland mit der Mannheimer Theaterszene ähnliche Erfahrungen machen…) Degoutiert wendet sich Lessing nicht nur von Mannheim, sondern gleich vom Theater im Ganzen ab.
Einen Moment überlegt er sich offenbar, einen grösseren Essay über John Locke zu verfassen. Dann aber findet er in der Veröffentlichung von Ausschnitten aus Hermann Samuel Reimarus‘ Apologie, die er als Fundstück aus seiner Bibliothek ausgibt, ein Betätigungsfeld. Er gerät darüber in Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Lessing wird die bisher gewährte Befreiung von der Zensur entzogen. Selbst im Ausland (d.i., dem übrigen Deutschland ausserhalb des kleinen Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel) darf er nicht mehr publizieren, ohne das Werk vorgängig bei der Zensur eingereicht zu haben. Lessing tut das zwar ein paar Mal trotzdem noch, anonym, wird aber der Streitereien leid. Er weicht auf seine alte Kanzel aus und verfasst nach langer Zeit noch ein Drama: Nathan der Weise.
Es fällt auf, wie in den Briefen der letzten Jahre mehr und mehr Klagen Lessings zu lesen sind, dass er alt werde. Tatsächlich waren es wohl eher äussere Umstände, die ihn bedrückten. Nach der Erfahrung mit Mannheim verzweifelte er daran, je wieder aus Wolfenbüttel wegzukommen. Sein Bruder Karl zog von Berlin nach Breslau. Was für den Bruder mit einer Verbesserung seiner Situation verbunden war (er wurde Direktor der Breslauer Münze, nach derjenigen von Berlin die zweitwichtigste in Preussen), bedeutete für Gotthold Ephraim, dass er seinen wichtigsten Berliner Korrespondenten verlor, den Mann, der ihn über viele Ereignisse der grossen Stadt informiert hatte.
Lessings Ruhm als Briefschreiber zieht sich, haben wir zu Beginn gesagt, vor allem aus den beiden Trauerbriefen, die er an Eschenburg schrieb. Tatsächlich finden wir, dass in seinen Briefen sein ganzes Leben lang wenig bis nichts Privates oder gar Intimes zu finden ist, kaum Gefühle. Selbst über seine Arbeit – sowohl die als Bibliothekar, wie die als Literat – lesen wir wenig, wenn wir von den ganz frühen Briefen zwischen ihm, Mendelssohn und Nicolai absehen, wo heftig und zum Teil kontrovers deren verschiedene Ansichten in aestheticis diskutiert wurden. Im letzten Lebensjahrfünft, das Band 3 der Briefe von und an Lessing beinhaltet, erfahren wir auch nur aus kleinen Bemerkungen am Rande, dass er sich mit Locke beschäftigen will, dass er dem Nathan eine Fortsetzung unter dem Titel Der Derwisch folgen lassen will, dass ein dritter Band zu Ernst und Falk zur Diskussion stand. Dieses letztere Werk hat damals in Lessings Freundeskreis offenbar viel mehr Furore gemacht, als sein schwacher Nachruhm vermuten liesse. Es haben sich einige Freimaurer bei ihm gemeldet und ihre Ansicht dazu kund getan. Ernst und Falk war auch der Schlüssel, mit dem sich eine relativ intensive und freundschaftliche Korrespondenz mit Herder öffnete. (Der letzte Brief in Band 3 ist ein Brief von Herder an Lessing, der ihn wohl bereits nicht mehr erreichte.) Aber im Grossen und Ganzen war Lessing zeit Lebens ein lausiger Briefpartner. Auf mehrere Briefe Lichtenbergs (die heute verschollen sind), hat er nicht geantwortet; seine dann überlieferte endliche Antwort gleicht dem diplomatischen Schreiben eines Staatsoberhaupts an das Oberhaupt eines befreundeten Staates. So viel wir wissen, hat Lichtenberg den Briefwechsel nicht fortgesetzt.
Die drei Bände der Bibliothek Deutscher Klassiker sind im übrigen absolut empfehlenswert. Mit ihrer Grösse liegen sie gut in der Hand. Das Dünndruckpapier ist angenehm, der Satzspiegel ordentlich – weder zu sparsam noch zu verschwenderisch. Reichliche, aber doch präzise Anmerkungen, Personenregister und ein synoptisches Verzeichnis aller Briefe, ja sogar Reproduktionen von ein paar Porträts wichtiger Korrespondenzpartner fehlen nicht. Schade, dass die Bibliothek Deutscher Klassiker offenbar vom Suhrkamp Verlag sistiert wurde.