Tobias George Smollett: The Expedition of Humphry Clinker

Ich habe den schottischen Arzt und Schriftsteller Tobias George Smollett (17721-1771) hier bereits einmal vorgestellt. Es sollte jenes eine mehr allgemeine Vorstellung sein; allerdings habe ich mich auch damals schon stark auf Smolletts bekanntestes Werk Humphry Clinker bezogen. Der Roman The Expedition of Humphry Clinker erschien 1771 und stellt, drei Monate vor Smolletts Tod veröffentlicht, sein letztes und auch sein reifstes Werk dar. Zumindest im englischen Sprachraum ist Humphry Clinker bis heute präsent. Der Roman soll deshalb hier noch einmal separat betrachtet werden.

Die Handlung

Viel ereignet sich im Grunde genommen nicht in diesem Roman, der in Smolletts Gegenwart spielt. Matthew „Matt“ Bramble erhält von seinem Arzt den Rat, seine arthritischen Gliedmassen durch einen Besuch der damals sehr gefragten und mondänen Bäder von Bath zu kurieren. Bramble tut, wie geheissen, reist aber nicht allein. Es kommen mit seine Schwester, Tabitha, die bei ihm lebt – mit 48 Jahren für damalige Verhältnis bereits eine alte Jungfer. Ihr Ziel auf dieser Reise wird es sein, sich in letzter Minute doch noch einen Gatten zu angeln. Begleitet wird Tabitha von ihrer Bediensteten Winifred (kurz „Win“ genannt) Jenkins, die als einzige der Truppe mit der Reise kein bestimmtes Ziel verfolgt. Jeremy Melford, Matthews Neffe, hingegen reist, um sich zu amüsieren, und seine Schwester, Lydia, um eine unglückliche Liebe zu einem gewissen Wilson, seines Zeichens Schauspieler, zu vergessen. Bath wird, zumindest aus Matthew Brambles Sicht, ein Reinfall. Da er nun aber schon einmal unterwegs ist, beschliesst er, nach Jahren London wieder zu sehen. Doch der Moloch, zu dem London seit seiner Jugend angewachsen ist, gefällt ihm noch weniger als Bath. Nach kurzem Aufenthalt reist die Familie weiter. Matt will nun Nichte und Neffen ein wenig von Grossbritannien zeigen; ausserdem scheint es, dass Reisen ihm besser bekommt als Baden. Die Gruppe zieht von London aus der Ostküste entlang gen Norden, quert die Insel auf schottischem Gebiet und reist auf deren westlicher Seite wieder in den Süden. Das gibt Smollet die Gelegenheit, England und Schottland einander gegenüber zu stellen. Brambles Familie stammt ursprünglich aus Wales; sie sind also sozusagen unabhängige Beobachter von Land und Sitten. Dass sie sich dann im Schnitt in Schottland wohler fühlen als in England, die Schotten – von ihrer merkwürdigen Sprache abgesehen – besser mögen als die Engländer, ist also ein Befund völlig neutraler Beobachter…

Der Briefroman

Humphry Clinker wird in Briefen der Protagonisten an zu Hause Gebliebene erzählt. Matt schreibt seinem Freund und Arzt, Jeremy einem Freund aus Oxforder Studienzeiten, Lydia ebenfalls einer Freundin aus Schulzeiten, Tabitha an die Haushälterin in Brambleton Hall und Win schliesslich an eine Mit-Bedienstete (und Freundin?) daselbst. Das gibt dem Autor Smollett die Möglichkeit, dieselben kleinen Abenteuer der Familie aus verschiedenen Gesichtspunkten darzustellen, und damit die einzelnen Gesichtspunkte zu relativieren. Vor allem die herbe Kritik Matthews am modernen Lebensstil in Bath und London wird durch die naive Freude Lydias am bunten Treiben auf ein normales Mass zurückgestutzt, ähnliches gilt für die – etwas weniger naiven – Auslassungen Jeremys. Vor allem Jeremy verdanken wir auch ein Portrait des eigentlichen Protagonisten Matthew: ein alles in allem liebenswerter, wenn auch hypochondrischer und misanthropischer Mann, der ein bisschen zu Engstirnigkeit und Jähzorn neigt. Die Neigung zum Jähzorn scheint in der Familie zu liegen, denn auch Jeremy fordert alles und jeden zum Duell, von dem er nur im entferntesten befürchtet, er könne ein Auge auf Lydia geworfen haben und die Familienehre, auf die er viel hält, besudeln. Lydia ist viel zu sehr mit ihrem Liebeskummer beschäftigt, um wirklich Land und Leute beobachten zu können; Tabitha schreibt, wenn sie schreibt, nur, um sicher zu stellen, dass möglichst viel Ertrag aus Eiern, Wolle und Butter generiert wird, denn sie hat Matthews Zusage, dass dieser Ertrag in ihre persönliche Schatulle fliessen wird. Wenn es nach ihr ginge, könnten die Leute auf Brambleton Hall von Wasser und Brot leben – Hauptsache, sie hat möglichst viel Butter und Eier zum Verkauf. Win schliesslich ist in Sprache und eigenwilliger Orthographie ein Spiegel ihrer Herrin. Wenn sie von den Bramble’schen Abenteuern erzählt, dann nie als erste. Sie ist das komische Echo von Matt und Jeremy. Würde sie alleine erzählen, wäre es für einen Leser auch unmöglich, die Ereignisse zu rekonstruieren – zu viel Wissen beim Rezipienten setzen ihre krausen Sätze bereits voraus.

Die Pärchen

Unsere Briefsteller, von denen jede/r einen eigenen Stil aufweist, sind von Tobias Smollett in Pärchen angeordnet. Dazu muss man wissen, dass die Familie zwar Briefe schreibt, aber nie welche erhält. Jedenfalls keine, die der Leser seinerseits zu lesen bekäme. Sie kommunizieren sozusagen in ein echo-loses Vakuum hinein.

Dabei sind die Familienmitglieder pärchenweise angeordnet: Matt und Jeremy, als die objektivsten, beschreiben die Gegend und erzählen die Ereignisse. Jeremy ist dabei seinem Onkel nachgeordnet; er setzt viele von dessen hypochondrisch-misanthropischen Vorurteilen wieder ins rechte Lot. Das zweite Pärchen bilden, nur schon auf Grund einer ähnlich eigenwilligen Orthographie, Tabitha Bramble und ihre Bedienstete Win: Weniger mit der Reise beschäftigt, mehr mit den Ereignissen in Brambleton Hall. Das letzte Pärchen – und hier merke ich, dass ich einen Briefsteller noch weggelassen habe. Alle Briefe in Humphry Clinker sind von Familienmitgliedern geschrieben worden, bzw. von Win – mit einer Ausnahme. Es gibt einen einzigen Brief, der nicht aus der Reisegruppe stammt. Er ist geschrieben von Wilson, adressiert an Lydia. Dieses Pärchen ist zwar für einander bestimmt; erzähltechnisch gesehen ist es aber äusserst asymmetrisch konstruiert. Nicht nur ist Wilsons Brief auf Grund des Absenders ein Unikat im Ganzen, er ist auch als einziger an eine nicht-abwesende Person gerichtet. Allerdings wird auch er nie eine direkte Antwort erhalten – Lydia traut sich nicht, weiss auch seine Adresse und seinen Klarnamen nicht. Sie schreibt ausschliesslich an ihre Jugendfreundin. Aber das Thema aller Briefe dieses Pärchens ist die Liebe.

Das alte England

Der fiktive Briefwechsel der Familie Bramble stellt eine Satire auf das englische Leben im 18. Jahrhundert dar. Da vieles davon (die Torheiten der Mode, das ungehemmte Wachstum der Grossstädte etc.) auch heute noch gilt, kann man die Satire auch heute noch lesen. Man wird allerdings rasch feststellen, dass die Hauptfigur Bramble (und mit und hinter ihm der Autor Smollett) ein rückwärts gewandtes Bild der Ideale, der Pflichten und Tugenden eines Menschen (und das ist: eines Briten!) vertreten. Denn wenn ich oben Matthew Bramble einen Misanthropen genannt habe, stimmt das nur teilweise. Bramble hasst die Masse und die Torheiten, die daraus entstehen, dass in der Masse einer dem andern nachrennt und ihn gleichzeitig zu übertreffen sucht. Daraus können nur Unglück und Verschwendung entstehen. Individuen gegenüber hingegen kann Bramble sehr grosszügig sein.

Bramble ist der idealtypische britische Squire, der, mit einem kleinen Landgut versehen, von den Erträgen dieses Guts lebt – ein Physiokrat der ersten Stunde. Gegen Ende des Romans werden wir sehen, wie Bramble kontrastiert wird mit ehemaligen Schulfreunden, die von eigener Torheit oder einer törichten Gattin verführt, versuchen, den Moden der Masse nachzulaufen und ein Mehrfaches für ihren Lebensstil ausgeben, als ihr Gut einbringt. (Ein Ende, das meiner Meinung nach im Verhältnis zum Ganzen abfällt: Zu viel rosarot geschilderter altpatriarchalischer Lebensstil, zu wenig Satire.)

Der Patriarch und die Frauen

Matthew Bramble also ist, bei aller Sympathie, die ihm der Leser entgegen bringt, ein absoluter Patriarch. Der ganze Roman ist patriarchalisch, um nicht zu sagen misogyn. Erzählen und die Erzählung voranbringen, können nur die Briefe der beiden Männer Matt und Jeremy. Die Frauen sind allesamt viel zu subjektiv, in ihre Gedanken und Gefühle verwickelt. Das Lebensziel sowohl von Tabitha „Tabby“ wie von Lydia „Liddy“ ist es, den Mann fürs Leben zu angeln. (Beide werden übrigens an Ende des Romans dieses ihr Ziel auch erreicht haben.) Sie sind, auch für den Roman, nur Ornament. Generell kommt dazu eine schlechte Darstellung der Frauen in der (höheren oder auch nur höher sein wollenden) Gesellschaft. Die Frau als diabolische – und dann doch wieder einfach nur selber dumm-verführte – Verführerin.

Ich vermute, dass das 1771 niemandem aufgefallen ist, obwohl zu jener Zeit auch in Grossbritannien die Frauen als Lesepublikum das männliche Publikum zahlenmässig zu überholen begannen. Die patriarchalische Grundeinstellung des Romans passt zur prinzipiell konservativen Einstellung von Protagonist und Autor.

Und Humphry Clinker?

Und wo steckt Humphry Clinker, der Titelheld des Romans? Nun, er taucht erst nach etwa einem Viertel überhaupt auf. Ein armer Teufel, der aus Zufall eine Stelle in der Entourage von Matthew Bramble erhält. Da sich der bisherige Bedienstete sehr schlecht über Tabithas Schosshündchen ausgelassen hat (nicht zu Unrecht, hat es ihn doch grundlos gebissen!) und deshalb fristlos entlassen wird, die Familie Bramble aber Ersatz braucht und Humphry der einzige vor Ort verfügbare Mann ist, wird er als Vorreiter eingestellt. Gleich zu Beginn schockiert er Tabitha, da beim Aufsteigen auf sein Pferd seine alten und schäbigen Hosen reissen und er den Damen im Wagen den ganzen Tag über den blanken Hintern zeigt. (Bei Win allerdings legt dieser Anblick den Grundstein für ihre Liebe zu Humphry.)

Humphry gibt zwar beim kurzen Bewerbungsgespräch an, lesen und schreiben zu können. Er wird aber im Rahmen des Romans diese Künste nie ausüben müssen. Kein einziger Brief stammt vom Titelhelden dieses Briefromans. (An wen sollte er auch schreiben? Er hat weder Verwandte mehr noch Freunde.)

Und so haben wir einen Titelhelden, der kein Protagonist ist…

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