Farb orientiert sich in seiner Gliederung an der Größe der Gesellschaften: Er untersucht Sippe, Stamm, Häuptlingtum und Staatswesen, die allesamt charakteristische Eigenheiten aufweisen, denn sowohl ökonomische als auch soziale Strukturen sind von diesen Faktoren abhängig (so wären die zahlreichen Menschenopfer der Azteken bei den Gruppen der Shoshone oder Inuit schon deshalb undenkbar gewesen, weil es Verwandtschaftsbeziehungen unter allen Gruppenmitgliedern gab und man auf die Unterstützung jedes einzelnen angewiesen war: Bestrafungen erfolgten durch Auslachen oder aber durch eine streng begrenzte Blutrache).
Neben diesen soziologischen Komponenten wird auch die Geschichte der einzelnen Stämme (Sippen etc.) skizziert, ihre erste Begegnung mit den Weißen, der Umgang mit den Fremden, die zumeist erst später als eine Bedrohung empfunden wurden und ihr schließlicher Untergang (denn keine einzige Indianerkultur hat die Kolonisation überlebt, das Dasein in den Reservaten hat eher etwas von einem modernen Menschenzoo). Dabei werden auch vergessene Riten und mythologische Vorstellungen beschrieben (gerade was den Mythos anlangt scheinen die Menschen des gesamten Erdkreises keine besonders große Kreativität an den Tag gelegt zu haben, all die Weltentstehungsmythen ähneln einander – ob sie nun aus Afrika, Asien oder eben Amerika stammen). Außerdem versucht Farb die erste Besiedelung des Landes durch die – aus Asien stammenden – Bevölkerungsgruppen nachzuzeichnen (wobei diese Abschnitte durch neuere Forschungsergebnisse teilweise überholt sind).
Obwohl der Autor eindeutig auf der Seite der indianischen Ureinwohner steht, verfällt er nirgendwo in eine dümmliche Glorifizierung des „edlen Wilden“, sondern beschreibt nüchtern und faktenorientiert eine Geschichte, die auch schon vor dem Auftauchen des weißen Mannes von kriegerischen Auseinandersetzungen und ökologischer Ausbeutung geprägt war. (Letztere ist ein gutes Beispiel für die Widerlegung des oft zitierten Märchens, dass indigene Völker „im Einklang mit der Natur“ zu leben wüssten und diese mit Schonung behandeln. Das ist manchmal der Fall (etwa bei den oft widersinnig erscheinenden Verhaltensweise der Ureinwohner auf Papua-Neuguinea), aber keineswegs die Regel: So dürfte die Ausrottung der Großsäuger in Amerika durch die Einwanderung bedingt worden sein, ebensowenig waren die meisten Kulturen in der Lage, den Boden nachhaltig zu bebauen, sodass es immer wieder zu selbstverursachten Hungersnöten kam.) Aber das Verschwinden all dieser Kulturen ist erschütternd, die Präpotenz und Verachtung der weißen Siedler mutet schier ungeheuerlich an (man betrachtete Indiander schlicht nicht als Menschen). Andererseits – ich kenne noch heute Menschen, die mit ebensolcher Selbstverständlichkeit Menschen mit schwarzer Hautfarbe nur eingeschränkte Rechte zugestehen oder sie für dümmer, primitiver erachten, häufig verbunden mit dem obskuren Argument, dass es nie afrikanische Hochkulturen gegeben habe (über die ökologischen Gründe hiefür Jared Diamond „Arm und Reich“). Allzu fern scheint uns auch heute ein solcher Rassismus nicht zu sein. – In jedem Fall aber ein höchst empfehlenswertes Buch für all jene, die an einer Einführung in die indianischen Kulturen Nordamerikas interessiert sind: Man sollte sich vom Erscheinungsdatum keinesfalls von der Lektüre abhalten lassen.
Peter Farb: Die Indianer. Entwicklung und Vernichtung eines Volkes. Frankfurt a. M., Berlin: Ullstein 1992.