Dem Unendlichkeitsproblem nähert sich Detel über die Mathematik: Er unterscheidet anfangs zwischen potentieller und aktualer Unendlichkeit (nach Aristoteles) und hält fest, dass diese etwas Allumfassendes hat, da eine Begrenzung des Unendlichen durch etwas Endliches unmöglich ist: Das Endliche muss dem Unendlichen inhärent sein. Danach gibt es eine kurze Einführung in den Mengenbegriff von Cantor nebst allen Problemen, denen wir als endliche Wesen bei der Falsifikation von Sätzen gegenüberstehen, die sich auf die Unendlichkeit beziehen, woraus er den Schluss zieht, dass bestimmte Sätze über das Aktual-Unendliche keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben und daher ähnlich wie Sätze über den Teufel (sic) und das Einhorn sinnlos seien. Hier staunt der Leser bereits, denn es mutet schon abenteuerlich an, eine Definition Gottes (inklusive all der „maximalen“ Eigenschaften) auf das Unendlichkeitsproblem zu beschränken und erst daraus dessen Undenkbarkeit abzuleiten, während man offenkundig die Abkürzung über Teufel, Waldwichtel und Einhörner hätte nehmen können und die verschieden großen Unendlichkeiten Cantorscher Provenienz nicht hätte bemühen müssen. Gott – und gerade der Gott der abrahamitischen Religionen – hat um keinen Deut mehr Realitätsbezug als ein Einhorn (wiewohl: Figürliche Darstellungen des Letzteren finden sich im Bett meiner kleinen Tochter en masse) und so bemüht Detel mit seinen Beweisen ein Elektronenmikroskop für Dinge, die auch mit freiem Auge sichtbar sind.
Ganz ähnlich seine Argumentation bezüglich des „Geistes“ eines solch unendlichen Wesens: Dabei bezieht er sich neben dem erwähnten Tetens auch auf Richard Swinburne, einen umtriebigen Theisten, der vor allem durch die Willkürlichkeit seiner Wahrscheinlichkeitshypothesen für Gott Bekanntheit erlangt hat.* Detel stellt die Trivialität fest, dass wir an das überirdische Wesen mit Begriffen herangehen, die spezifisch menschlich und auf das Endliche bezogen sind und daher dem zur Diskussion stehenden Gottesbegriff nicht gerecht werden können. Damit könnte er es auch schon bewenden lassen, denn er weiß ohnehin um die verschiedenen Wege der Theologen, sich Gott zuzuwenden: Die via positiva sucht einiges unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse, unserer Semantik zu bewahren, die via negativa meint alle diese Bezüge beseitigen zu müssen, während die via eminentiae eine ganz besondere, Gott angemessene (aber welche?) Sprache bevorzugt. (Eines der Grundprobleme Detels besteht darin, dass er ernsthaft die Meinung vertritt, der Theismus müsse die grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen (vielleicht tut das der von ihm angegriffene Tetens): Tatsächlich aber wird sich ein verständiger Theist hüten, derartige Einschränkungen zu akzeptieren – im Gegenteil – gerade der Supernaturalismus macht Gott überhaupt erst zu einem so interessanten Phänomen. Denn das in der Fußnote erwähnte göttliche Kraftfeld ist in etwa so anheimelnd wie der Versuch, der schönen Literatur durch Kuscheln mit einer Goethebüste nahe zu kommen.) Und so führt Detel in die Theorie des Geistes ein, zeigt, dass eine solche ohne Bezug zu einer Umwelt, eines Subjekts, dass in irgendeiner Form die Wirklichkeit erfasst, unsinnig und leer und daher für die Beschreibung Gottes unzulänglich ist. (Die Beweisführungen sind sehr viel länger und recht umständlich, wobei ich sie in keiner Weise in Zweifel ziehen will.)
Man fragt sich bis zum Ende, warum da jemand einen derartigen Aufwand betreibt, um zu einem mehr als selbstverständlichen und leicht einsichtigen Schluss zu kommen: Man kann von Gott mit dem herkömmlichen Vokabular gar nicht sprechen. (Im übrigen wird dies die Theisten nicht im mindesten berühren und sie sich keineswegs widerlegt fühlen: Denn Gott ist eben der Unbegreifliche und Detel zeigt nur, dass sein armer, kleiner irdischer Verstand an der Aufgabe des Gottesverständnisses scheitert. Außerdem sind Theologen, Theisten & Co bei diesen sophistischen Auseinandersetzungen in ihrem Element: Denn sie müssen sich keineswegs – wie Detel anzunehmen scheint – auf Wissenschaft und Logik beschränken; es ist ja gerade das Transzendieren dieser Lebenswelt, das Religion ausmacht.) Das letzte Kapitel gibt jedoch über die Motivation des Essays (so die Bezeichnung von Detel) ungewollt? Auskunft: Denn dort wird von einer Religiosität ohne Gott gesprochen. Der Autor meint, dass sein Agnostizismus keineswegs die Religion ablehnen, sondern uns vielmehr intellektuelle Bescheidenheit lehren würde. (Nichts gegen Bescheidenheit!) Aber warum das? Weil „wir die letzten Geheimnisse nie endgültig entschlüsseln können, und auf welche Weise in einem blinden Universum, beherrscht lediglich von Naturgesetzen, Wesen haben entstehen können, die sich ein moralisches Gesetz geben, ist nahezu unbegreiflich.“ Dieses so alte und auch völlig unsinnige Argument, dass von unserem Unwissen auf Gott (die Religiosität, esoterische Entitäten bis hin zum fliegenden Spaghettimonster) geschlossen werden könne, wirkt beinahe peinlich und wird selbst von Theologen selten bemüht: Weil durch das fortschreitende Wissen ihr lieber Gott für leider immer weniger Dinge zuständig war. Und so nebenbei: Die moralischen Gesetze mögen für Detel ein Rätsel sein, die Soziobiologie aber liefert schon seit längerer Zeit hervorragende Erklärungsmodelle für unser moralisches Verhalten. Das hingegen scheint zu viel Wissenschaft für den theoretischen Philosophen, der sich lieber mit Kant über den bestirnten Himmel und die goldene Regel wundern will. Und dass der abrahamitische Wind- und Wettergott ein Produkt konfabulierender Beduinen ist, die sich mehr-weniger hilflos die Welt zu erklären suchten, kommt Detel nicht in den Sinn: Wie – zum Teufel – soll eine solche Figur den Unendlichkeitskritierien der Cantorschen Mengenlehre genügen? und warum sollte sie überhaupt einer logisch-stringenten Analyse zugängig sein?** Um diesen Essay zu verbrechen muss man schon ein gehöriges Maß an Weltfremdheit mitbringen oder seine christliche Kinderstube nur unzulänglich rationalisiert haben …
*) Im übrigen teile ich die Kritik vieler Gottesgläubiger an dem Vorgehen Swinburnes, sich einen rationalen Gott zu konstruieren (Wolfhart Pannenberg schlägt in die selbe Kerbe und spricht von Gott als einem „Kraftfeld“): Ein solcher Gott verspricht dem am Leben leidenden Menschen wenig Trost, die christlichen Fürbitten an ein „Kraftfeld“ zu richten entbehrt nicht einer gewissen Komik. Schon Pascal hat solchen Ansätzen nichts abgewinnen können: Wenn schon Gott, dann ein alttestamentarischer, der zwar eifersüchtig und wütend zu werden pflegt bei geringsten Anlässen, dann aber doch wieder ein gewisses Maß an Menschlichkeit verspricht, ein Aufgehobensein. Allerdings fühle ich mich auch solch eines Trostes wenig bedürftig.
**) Kein Mensch käme auf die Idee, die überlieferten bzw. von Priestern ihm zugesprochenen Eigenschaften Huitzilopochtlis auf ihre Stringenz zu prüfen und daraus Schlüsse auf Zulässigkeit eines Redens über einen Weltenschöpfer abzuleiten.
Wolfgang Detel: Warum wir nichts über Gott wissen können. Hamburg: Meiner 2018.