Das Buch hat bei seinem Erscheinen zu kontroversen Diskussionen geführt: So fanden sich die Deutschen wenig wohlwollend dargestellt (welch Überraschung bei einem Buch über den Holocaust bzw. den Zweiten Weltkrieg), andere hingegen (wie Jorge Semprún) bezeichneten das Buch als „das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte“). Das Ausmaß der Diskussionen, Besprechungen etc. hat mich damals (wie so oft in solchen Fällen) dazu veranlasst, auf die Lektüre zu verzichten; erst nun, 12 Jahre nach der Ersterscheinung habe ich meiner Unkenntnis abgeholfen.
Nachträglich muss ich gestehen, dass ich meine Zeit sinnvoller als mit diesem 1400-Seiten-Wälzer hätte zubringen können. Vor allem dort, wo das Buch sich bemüht, „große Literatur“ zu sein, scheitert es auf der ganzen Linie. Die fiktive Gestalt des Dr. Aue, eines SS-Offiziers, ist eine Schimäre im ursprünglichen Wortsinne: Dort, wo er als Vertreter des Dritten Reiches handelt und agiert, ist seine Darstellung glaubwürdig, in Teilen auch wirklich gelungen. Hingegen ist der private Dr. Aue (bzw. jener am Ende des Krieges) ein Kunstprodukt ohne Sinn und Verstand, sein Handeln wirkt unlogisch und unmotiviert, seine Geschichte ist bemüht tiefsinnig gestaltet (ohne es auch nur in Ansätzen zu sein). Dabei muss man wissen, dass sich Littell an der Orestie bedient, er zahlreiche Motive aus diesem Sagenkreis übernimmt, wohl um dem Roman mit einer literaturgeschichtlich aufgemotzten Patina zu versehen, die dann den p. t. Kritikern die freudige Möglichkeit bietet, ihrerseits ihre humanistische Bildung an den Leser zu bringen.
Dr. Aue, geboren in Frankfreich (französische Mutter aus dem Elsass, deutscher Vater, dessen Spuren sich in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg verlieren) hat ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Zwilliingsschwester, der er ewige Liebe schwört (was angesichts seiner Homosexualität seltsam wirkt: Denn die Beziehungen zu Männern scheinen das Treuegelübde nicht zu verletzen und an Frauen ist er offenkundig sehr wenig interessiert). Immer noch träumt er von einem Verhältnis mit ihr (sie aber wendet sich von ihm ab, gebiert später Zwillinge, über deren Herkunft zuvor lange gerätselt werden darf) – und dieses Träumen darf man wörtlich nehmen: So ist das vorletzte Kapitel, in dem er im ostpreußischen Haus seiner Schwester kurz vor der Eroberung durch die Russen alleine wohnt, ausschließlich diesem Schwelgen in seinen seltsam perversen Sehnsüchten gewidmet. Er läuft nackt und mit erigiertem Penis durch das Haus, vergräbt sich in der Bettwäsche der Schwester auf der (vergeblichen) Suche nach ihrem Geruch, befriedigt sich selbst anal, indem er sich auf einen abgebrochenen Aststumpf setzt usf. Die Voraussetzung für diese Phantasien scheint ein intensives Studium psychoanalytischer Literatur zu sein (wie mir überhaupt viel zu viel geträumt wird in diese Roman: So wird man auch nach Aues Kopfverletzung in Stalingrad mit 30 Seiten langen Fieberphantasien gequält, die natürlich metaphernschwanger zu allerhand tiefsinniger Interpretation verleiten), alles hat einen doppelten dreifachen Sinn, ist von verborgener Bedeutung oder weist auf lange verdrängte Traumata hin. Hier bricht sich nicht die Originalität des Autors Bahn, sondern seine Hilflosigkeit, seine Unfähigkeit, die Biographie des Dr. Aue in den Roman zu integrieren. Auch die Ermordung seiner Mutter (durch den Sohn!? – das bleibt bis zuletzt ungewiss) ist ein Fremdkörper im Roman, der Hass des Sohnes ist konstruiert (er verehrt seinen Vater und führt die Trennung seiner Eltern auf das Verhalten der Mutter zurück, ist auch immer wieder bemüht um Spuren von dessen Leben zu finden: Die arme griechische Sagenwelt …), fast alle privaten Handlungen sind aufgesetzt und wirken ausgedacht.
Gegen Ende des Romans kippt die Handlung endgültig ins Skurrile, Aue beißt den Führer bei der Verleihung eines Ordens in die Nase, wird eingekerkert, auf der Fahrt zur Hinrichtung trifft ein Sprengkörper den Wagen und er überlebt als einziger. Auf der weiteren Flucht durch das zerstörte Berlin trifft er auf seinen Freund, der ihm (er wird auch von zwei Kriminalbeamten verfolgt wegen des Mordes an der Mutter, Kriminalbeamte, die ganz offensichtlich an die Erynien erinnern sollen) das Leben rettet. Dieser Freund (ein zynischer Machtmensch, ebenfalls SS-Mitglied) hat sich längst mit einer anderen Identität versehen und gedenkt sein Leben auch nach dem Krieg zu genießen; Aue aber (der sich bislang um die Zukunft nicht gekümmert hat) erschlägt ihn und nimmt dessen neue Identität an. Womit das Buch abbricht: Allerdings weiß man vom Ich-Erzähler Aue, dass er nach dem Krieg zu einem erfolgreichen Unternehmer in Frankreich wurde. Und man erfährt einiges über eine Art von schlechtem Gewissen seinerseits, wobei auch das verwirrend wirkt: Denn je weiter die Erzählung fortschreitet, desto weniger hat man den Eindruck, dass Aue seine Taten (bzw. die Ermordung des Freundes) bedauern würde, er wandelt sich gegen Ende zu einem fast gewissenlosen Mörder.
Dass es bei so viel Un- und Widersinn auch Positives zu berichten gibt, nimmt wunder: Aber die Darstellung der SS-Szenerie scheint mir sehr gut gelungen, sie wirkt keineswegs übertrieben, sondern überaus plausibel. Littell bedient sich zahlreicher historischer Personen (wobei er bei manchen – etwa Eichmann – in eine etwas klischeehaften Darstellung verfällt), viele Ereignisse (vor allem an der Front aber auch in Bezug auf den Holocaust) sind von großer Authentizität und Eindringlichkeit. Die Deutschen (inklusive des Dr. Aue) werden differenziert dargestellt, mit Skrupeln, mit all ihrer Brutalität und Engstirnigkeit; die Verteidigung der unmenschlichen Ideologie durch Menschen, die häufig eine akademische Bildung genossen hatten, ist in ihrer seltsamen Widersinnigkeit ganz ausgezeichnet gelungen: Diese Seiten lesen sich – trotz der geschilderten Gewalt – wie aus einem wirklich großen Roman. (Ich konnte auch keine – Littell unterstellte – Gewaltverherrlichung feststellen: Es sind Szenen wie aus Christopher Brownings Geschichtswerken, erschütternd, aber realistisch.) Hätte sich Littell auf das Leben Dr. Aues als SS-Offiziert beschränkt (ohne Muttermord und inzestuösen Verstrickungen, ohne diese penetranten Anleihen an klassischer Literatur und Psychoanalyse), so wäre dies ein vielleicht wirklich großartiger Roman geworden. Und auch das skurrile Ende des Buches wirkt aufgesetzt: Es verleiht dem Buch, dem Inhalt etwas Lächerliches, das im Rahmen dieses Romans, der Erzählweise, auch der sprachlichen Gestaltung, völlig unpassend wirkt. – Angeblich hat Littell (was den wohl auch eine Mär sein wird) das Buch in drei Monaten niedergeschrieben: Es könnte dies ein Grund für das Disparate der Handlung sein. Wobei mich der Verdacht beschleicht, dass alle diese ach so doppelsinnigen Passagen einfach nur der Eitelkeit des Autors geschuldet sind, der Vorstellung, die er von sich selbst als Literat hat, dem Bedürfnis, seine humanistische Bildung zur Schau zu stellen, seine Klugheit(?) – oder eben das, was er darunter versteht. Ein Muss ist dieses Buch keineswegs und man muss schon einigermaßen literaturaffin sein, um diesen Wälzer auf seine zarten Leserschultern zu laden.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Berlin: Berlin Verlag 2008.