Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert

„und“, nicht „oder“: Selbst gestandenen Literaturwissenschaftern unterläuft der Lapsus in ihren Aufsätzen zu diesem Buch, aber der Titel heisst wirklich Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Vielleicht ist dieser Lapsus ein Zeichen der Unsicherheit, die das Buch im Leser und Interpreten bewirkt, so, wie es ein Zeichen meiner taxonomischen Unsicherheit ist, dass ich das Buch gleich in drei Kategorien abgelegt habe.

1787 anonym in zwei Teilen erschienen, machte es rasch Furore. Allerdings verdankt es bis heute viel von seinem Ruhm der Tatsache, dass in Ardinghello – horribile dictu! – ganz offen und ganz viel gepimpert wird, sogar Gruppensex findet man. (Oder dann lässt Heinse eines Nachts seinen Protagonisten Ardinghello ins Zimmer einer jungen, schlafenden Dame eindringen, die da – der milden Temperaturen in Italien wegen – unbekleidet unterm Leintuch liegt, welches Ardinghello abdeckt und der schlafendenden Frau in einer recht detaillierten Beschreibung die Brüste streichelt.)

Heute hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Rahmenhandlung für Heinse nur Vorwand war, um anderes zu transportieren. Das zeigt schon die Tatsache, dass die Form des Romans zwischen Abenteuerroman, Liebesroman und ich weiss nicht, was noch, schwankt, in grossen, aber nicht in allen Teilen als Briefroman angelegt ist. Der ‚Held‘, Ardinghello, wird als Maler eingeführt; recht schnell schon zeigt es sich, dass er auch Mitglied einer der grossen italienischen Familien ist, die in den dortigen Stadtstaaten des 15. und 16. Jahrhunderts in blutigen Fehden um die Herrschaft rangen; dass er Architekt und Ingenieur sein kann, der mit Palladio um den Ruhm des besten Mannes im Business streitet – mit einem Wort ein Sturm-und-Drang-Genie in Perfektion, weshalb man Ardinghello denn auch als letzten Vertreter des Sturm und Drang betrachtet hat. Gleichzeitig weist der Roman aber in die Zukunft der Geschichtsschreibung als solcher: Bevor der Ausdruck existierte (er wurde erst etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Frankreich in Deutschland heimisch), beschrieb Heinse schon den Menschen und das Lebensgefühl der Renaissance (denn das ist gemeint mit Italiänisch .. aus dem sechszehnten Jahrhundert), wie es rund 100 Jahre später erst von Jacob Burckhardt festgeschrieben wurde.

Heinses Sturm-und-Drang/Renaissance-Mensch ist nicht nur Künstler und Mensch der (Liebes-)Aktion, nicht nur ein zweiter Casanova (genauer ein erster, denn, hätte er wirklich gelebt, wäre Ardinghello vor Casanova gewesen): Er ist auch Kunsttheoretiker. Schon früh im Text erleben wir ihn, wie er mit einem andern Künstler des langen und des breiten über Malerei und Skulptur diskutiert. Ardinghello erweist sich darin als der Anti-Klassiker, gegen die Ansichten von Winckelmann und Lessing Streitende. Ardinghello zieht den Tizian dem Michelangelo vor, weil im Tizian (von der Verwendung der Farben, von der Gestaltung der Körper her) mehr Leben zu finden ist. Wie überhaupt unterschwellig das Nackte und die Sexualität in Heinse-Ardinghellos Kunsttheorie eine grosse Rolle spielt: Schön ist, was (sexuell) begehrenswert ist. Ardinghello reist in Italien; seine Route entspricht genau der, die Heinse selber 1780-1783 genommen hat. Seine Beschreibungen der jeweils angetroffenen Kunstwerke sind denn auch mehr oder weniger ausgearbeitete Reisenotizen Heinses.

Kein Wunder stiess Heinse bei der sich formierenden Deutschen Klassik, bei Schiller und Goethe, auf Widerstand. (Das Umfeld der beiden urteilte differenzierter. Zwar verurteilte auch Knebel in einem Brief an seine Schwester die sexuelle Freizügigkeit wenigstens ansatzweise, befand das Werk aber als voll Leben und das ist genug. Johannes von Müller meinte gar: Große, kühne Natur, Nerv, Anschauen, Genußkraft, Sieg! Nun ja, Müller, der arme Kerl, wäre gern so gewesen wie Ardinghello…) Kein Wunder, stiess Heinse bei der anti-klassischen Fraktion auf Zustimmung: Friedrich Schlegel formte vieles seiner Lucinde (inkl. dem Namen der Heldin) nach Ardinghellos Abenteuern und Ansichten in eroticis. Auch Hamann äusserte sich gegenüber Jacobi positiv über Ardinghello. (Das alles und mehr lässt sich in der von mir gelesenen Kritischen Studienausgabe des Textes, erschienen bei Reclam, =Universal-Bibliothek 9792, nachlesen.)

Last but not least jener Exkurs in die Philosophie, der gegen Ende des Romans in einem Gespräch erfolgt, und den die meisten Interpreten als überflüssiges Geschwafel ad acta legen. Heinse entpuppt sich darin als Kenner der antiken Philosophie, angefangen bei den Vorsokratikern: das Gespräch beginnt mit Anaxagoras, Platon wird häufig zitiert, Aristoteles noch mehr, aber auch Sophokles, Euripides, Aristophanes und Pindar werden mehr oder weniger verdeckt zitiert, Thales, Heraklit, Xenophanes, Parmenides und Demokrit. Selbst Kopernikus, Newton, Descartes, Spinoza und Leibniz sind zu finden. Heinse adaptiert Anaxagoras‘ Lehre einer „Weltseele“ (nous), um nach der oben skizzierten Tour d’horizon bei der Vorstellung des Weltalls als einer einzigen, ewigen und sexuell-lustvollen Bewegung unendlich vieler Substanzen (Max L. Baeumer im Nachwort meiner Ausgabe) zu enden. Heinses Philosophie mag uns bizarr anmuten – Hölderlin hat gerade diesen Teil des Ardinghello offenbar aufmerksam gelesen und lässt seinen Hyperion mit sehr nah verwandten Ansichten enden.

Ardinghello und die glückseeligen Inseln ist ein sperriger Text, kein Wunder, sind von meinen über 700 Seiten Reclam fast die Hälfte Anmerkungen, Erläuterungen und historische Dokumente.

Kennen Sie schon den Ardinghello von Heinse, dies Meisterstück der üppigsten Philosophie und Phantasie? Ich möchte dies Stück haben schreiben können und doch nicht geschrieben haben. (Heinrich Christian Boie an Anton von Halem, am 24. September 1787)

3 Replies to “Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert”

  1. Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln, 1787:

    „Der schöne Mensch im bloßen Gefühl seiner Existenz ohne Leidenschaft in Ruhe ist der eigentlichste Gegenstand der Nachahmung des bildenden Künstlers und seine Nummer eins; in dieser Verfassung ohne alle Bekleidung liegt die reinste Harmonie der Schönheit, und sie paßt am allerbesten zu dem gänzlichen Mangel an Bewegung seiner Werke. Alle Leidenschaft, alle Handlung zieht, leitet unsre Betrachtung von ihren schönen körperlichen Formen ab. Zur Schönheit selbst gehört der Charakter oder das, wodurch sich eine Person von der andern unterscheidet. Schönheit mit lebendigem Charakter ist das Schwerste der Kunst. (…)
    Nach Platons Erklärung, den Ihr mir wohl zu kennen scheint, ist die Schönheit die ursprüngliche Idee der Dinge in Gott. Und die Seelen, die sein Anschauen genossen und diese Ideen erkannten, schaudern, wenn sie in diesem Leben die Bilder davon mit den Augen erblicken, erinnern sich dunkel ihres vorigen Zustandes, erschrecken und werden entzückt. Ihre Schwingen regen sich, gehen vom warmen Einfluß auf, der Federstock keimt und so weiter.

    Es ist gewiß eine erhabne Hymne auf die Liebe und liegt tiefe Wahrheit zugrunde.

    Was sich selbst bewegt, ist Seele, ewig, ohne Anfang: davon alles Werden und alle Körper, die sich bewegen. Schönheit ist die vollkommenste Harmonie der Bewegung, und die Seele erkennt darin ihren reinsten Zustand. Schönheit gibt der Seele das lauterste Gefühl ihres Daseins. Schönheit ist die freieste Wohnung der Seele. Schönheit erinnert die Seele an ihre Gottheit, an ihre Schöpfungskraft, und daß sie über alle die Körperwelt, die sie umgibt, ewig erhaben ist. Im Anfang macht ihr dies Freude, aber endlich Pein; sie sieht sich gefangen, und daß sie nicht mehr ist, was sie war: und die Tränen rinnen über ihren nichtigen gegenwärtigen Zustand. Doch stärkt sie wieder ihre ewige Natur, und die süße himmlische Hoffnung regt ihre Fittiche, daß sie doch bald aus dieser Dunkelheit, aus diesem Wahne von Irrgestalten sich erheben werde in das Licht zu den Scharen der seligen Geister, wo weder Frost noch Hitze abwechseln, und alles ist in seiner mannigfaltigen Wahrheit und ursprünglichen Schönheit.

    Nicht geboren werden übertrifft alle irdische Glückseligkeit; und wenn du da sein wirst, so ist, je geschwinder, je besser, wieder dahin zu kehren, wo du herkömmst. Sobald die Jugend sich einstellt mit ihren tollen Streichen, wer windet sich mit aller Arbeit daraus? wer steckt nicht in Plagen und Leiden? Morde, Parteien, Streitigkeiten, Gefechte und Neid. Auf die Letzt überschleicht uns das unzufriedene, schwache, menschenscheue, verhaßte Alter, wo alle Übel haufenweis zusammen wohnen.
    So seufzte selbst der bewunderte Sophokles am Ende seiner glücklichen und glänzenden Laufbahn…“

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