Hamann ging in London moralisch und pekuniär vor die Hunde. Lichtenberg andererseits genoss das pulsierende Grossstadtleben (um diesen Gemeinplatz auch einmal verwenden zu dürfen); auch wurde der berühmte Physiker gefeiert und gar dem König vorgestellt. Moritz positioniert sich mit seiner Englandreise irgendwo dazwischen. Im Gegensatz zu Lichtenberg war er kein Landeskind von Georg III. (mehr) – der naturalisierte Berliner und damit Preusse musste dafür immer wieder vom preussischen König erzählen, der gerade eben aus seinem Land eine europäische Grossmacht gemacht hatte und über dessen grosse Zahl an Soldaten, die er hielt, die Engländer immer wieder staunten. (Während sich Moritz darüber wunderte – und es auch positiv in seinem Reisebericht vermerkte – dass in London gar keine und auch sonst in England nur wenige Soldaten zu erblicken seien.) Finanziell war Moritz‘ Situation in England sicher nicht fürstlich – dafür erzählt er zu viel davon, wie billig diese oder jene Mahlzeit, diese oder jene Unterkunft gewesen sei. Dass er sich England überhaupt leisten konnte (damals war das ein Hochpreisland!), lag wohl auch daran, dass er über seine Berliner Freimaurerloge mit Hamburger Logen in Kontakt stand. Die Hamburger Logen bestanden zu jener Zeit vor allem aus Kaufleuten, die ihrerseits der Natur ihrer Profession entsprechend viele internationale Kontakte pflegten – so mit Londoner Logen. Jedenfalls fällt auf, dass Moritz‘ Empfehlungsbriefe fast ausschliesslich an Londoner Kaufleute gerichtet sind.
Moritz‘ Reisebericht ist in Form von Briefen an Herrn Direktor Gedike verfasst. Der Brief-Charakter ist allerdings sehr nachlässig durchgehalten. Moritz orientiert sich an empfindsamen Reisen im Stile eine Yorick, ohne allerdings Sternes immer wieder aufblitzende satirische Seite zu übernehmen. Auch reist Moritz gern und oft zu Fuss, selbst nachdem man ihn gewarnt hat, dass in England Fussreisende als Vagabunden und Halunken betrachtet werden. Dem entsprechend kann er dann immer wieder mal darüber lamentieren, dass man ihm keine Herberge gegeben hatte. Die Ansicht, dass man nur zu Fuss Land und Leute richtig kennenlernen kann, hat er aus Rousseaus Émile genommen. Überhaupt ist Moritz‘ Englandreise die Reise eines Bücherwurms. Selbstverständlich besucht er Shakespeares Sterbehaus in Stratford-upon-Avon. Noch selbstverständlicher schleppt er auf der ganzen Reise ein Exemplar von Miltons Paradise Lost mit, und er schildert des öfteren, wie er sich zur Lektüre unterwegs unter einen Baum oder unter eine Hecke setzt. Und wenn es darum geht, den richtigen Umgang mit den Herbergswirten zu treffen, orientiert sich Moritz nach eigener Aussage an Reminiszenzen aus Goldsmith‘ Vicar of Wakefield. Dass der empfiehlt, den Gastwirt immer auch zu einem Bier einzuladen, kommt Moritz auch deswegen zupass, weil er selber das englische Ale nicht verträgt, und er es so dem Wirt aufdrängen kann – den ja nicht allzu sehr drängen musste.
Moritz spricht Englisch. Zu jener Zeit war das noch keineswegs selbstverständlich, und dies hilft ihm natürlich dabei, den Kontakt zur Bevölkerung zu finden. So ist bei aller Empfindsamkeit ein realistischer, ja sozialkritischer Unterton in diesem Reisebericht nicht zu überhören.
Summa summarum: Wer etwas darstellen wollte damals in der Welt der deutschen Intellektuellen, reiste entweder nach Italien oder nach England. Moritz war einer der wenigen, der beide Gegenden bereist hatte. Im Grossen und Ganzen sind die Reisen eines Deutschen in England allerdings recht konventionell gehalten. Im Gegensatz zu den Reisen eines Deutschen in Italien finden wir hier keinerlei Hinweise auf Neues – so, wie eben die Italienreise Moritz‘, bzw. sein Bericht darüber, in Deutschland die ersten schüchternen Nachrichten verbreitete von der neuen Ästhetik, die Goethe und seine Freunde in Rom entwickelt hatten, und die die der Deutschen Klassik werden sollte. Vielleicht deswegen ist Moritz‘ Bericht über seine Italienreise bei der damaligen Literaturkritik durchgefallen. (Und schon bald sollte sie – bis heute – von Goethes Reisebericht überstrahlt werden.) Mit dem konventionellen Bericht über seine Englandreise traf Moritz hingegen den Nerv der Zeit: Er wurde von der Kritik applaudiert, und machte den Autor in Deutschland zu einem anerkannten Mitglied der Schriftstellerzunft. Heute allerdings weiss man kaum noch, dass Moritz auch über seinen Aufenthalt in London und in England publiziert hat. Dabei sind einige seiner Vignetten recht interessant. Was er über eine Wahlveranstaltung in London schreibt, die so gesittet ablaufen soll, widerspricht auf den ersten Blick den (sicher satirisch zugespitzten) Schilderungen eines Tobias Smollett in Humphry Clinker. Auf den zweiten Blick findet man allerdings in den Gassenjungen, die Laternenpfähle erklimmen und von dort „Hurra!“ schreien und mit Fähnchen winken, durchaus die anarchischen Zustände eines Smollett wieder. Man muss bei Moritz halt gut zuhören, um wirklich alles zu hören, von dem er erzählt.