Thomas Grundmann: Philosophische Wahrheitstheorien

Grundmann weist in diesem Text auf eine Problematik hin, die in diesem Blog schon häufig thematisiert wurde (etwa hier auf eher theoretische Weise oder hier in Bezug auf die aktuelle politische Lage): Die Korrumpierung der Wahrheit bzw. des objektiven Wahrheitsbegriffes hat zur Folge, das sich „die Frage nach der Richtigkeit“ gar nicht mehr stellen lässt und damit jede sachliche, rationale Kritik unmöglich wird. Die Relativisten nehmen dabei für sich eine „tolerante“ Haltung in Anspruch, eine Haltung, die jedem seine ganz eigene Wahrheit zugesteht: Sie dürfen sich dann aber auch nicht über die „Auschwitzlüge“ beschweren oder Trumps alternative Fakten – es bleibt eben alles Ansichtssache.

Wahrheit hat nicht nur einen philosophisch-wissenschaftlichen Wert, sondern ist auch aus keinem gesellschaftlichen Diskurs wegzudenken. Ohne Anspruch auf Wahrheit ist Kritik unmöglich und keine Macht, keine Regierung könnte oder dürfte mehr mit Fakten konfrontiert werden, die sie der Lüge überführen. Dabei wurde dem Wahrheitsbegriff schon länger übel mitgespielt: Seit Ende des 19. Jahrhunderts machte sich eine immer stärker werdende Skepsis breit, die vor allem auf der Erkenntnis beruhte, dass ein Gewissheitsanspruch nicht eingelöst werden kann. Und weil da sich immer ein Spalt auftut zwischen einer Proposition und jenen Kriterien, die aus dieser Proposition eine wahre Aussage machen, wurde auch der grundsätzlich Anspruch auf Wahrheit desavouiert. Vor allem die realistische Wahrheitskonzeption wurde als obsolet betrachtet: Eben deshalb, weil selbst bei klarer Faktenlage Zweifel bestehen bleiben.

Diese Sehnsucht nach Gewissheit hat die Philosophie teilweise zu verzweifelten Maßnahmen geführt: Edmund Husserl sah eine Philosophie ohne diesen Absolutheitsanspruch als gescheitert an (und konzipierte einen Wahrheitsbegriff, der auf Intersubjektivität verzichtete), ähnlich reagierte nach dem Scheitern der Verifikationsbemühungen auch der späte Moritz Schlick mit seinen Konstatierungen, die ebensowenig wie ein Evidenzbegriff die Intersubjektivität der Wahrheit garantieren können. Erst Popper war bereit, den Absolutheitsanspruch aufzugeben und mit einem idealen Wahrheitsbegriff zu arbeiten, der zwar nie erreicht, aber erstrebt werden sollte. Dabei zeigte sich, dass trotz der Aufgabe dieses Anspruches die Beurteilung von Theorien (oder Propositionen) auf ihren Wahrheitsgehalt nicht beliebig sein würde; eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Theorien (Aussagen) kann zumeist getroffen werden (und erweist sich in der Praxis als viel weniger schwierig denn in der Theorie).

Bei Grundmann wird auf eine Zurückführung auf das Gewissheitsproblem verzichtet: Er weist kurz auf die Desavouierung der – über Jahrhunderte akzeptierten – Korrespondenztheorie hin und stellt dann die konstituierenden Eigenschaften von Wahrheit vor: Sie ist eine absolute Eigenschaft (sie ist nicht von der subjektiven Beurteilung abhängig); sie ist extensional (bei identischem Referenten ändert sich der Wahrheitswert nicht); sie erfüllt das Zitattilgungsschema (p ist wahr genau dann, wenn p; das richtet sich gegen die Pragmatisten, die wahr durch nützlich ersetzen); Wahrheit ist nicht gleich dem Fürwahrhalten; sie ist nicht sprachrelativ. Davon ausgehend unterscheidet er zwischen epistemischen und realistischen Wahrheitstheorien: Jene arbeiten u. a. mit den Begriffen der Evidenz, des Konsenses und der Kohärenz. Evidenzbasierte Wahrheitstheorien wurden schon vom Wiener Kreis durch ihr relativistisches Element für unzureichend erklärt: So kann dem einen etwas evident erscheinen, was es für den anderen nicht ist und für jenen könnte sich herausstellen, dass ihm etwas zuvor Evidentes später keineswegs mehr einsichtig ist. Damit wäre der Anspruch aufgegeben, dass Wahrheit eine absolute Eigenschaft ist und nicht von der subjektiven Beurteilung des einzelnen unabhängig. Auch die Kohärenztheorie (wie etwa von Otto Neurath vertreten), die eine Aussage nur dann gelten lässt, wenn sie sich ins bisherige System eingliedern lässt, ist problematisch: Kohärent können auch Mythologien sein und dabei keineswegs einen Anspruch auf Wahrheit erheben. Und die Konsenstheorie (Habermas) hat ähnliche Probleme im Gefolge: Auch wenn Habermas dabei „ideale“ Diskursbedingungen voraussetzt (wie immer das genau aussehen kann), so setzt ein Diskurs den Begriff der Wahrheit immer schon voraus. (Es ist nicht zu sehen, wie das für und wider von Meinungen abgewogen werden kann ohne einen solchen Bezug.)

Alle diesen Theorien können aber keinesfalls auf die Annahme von realitätsbasierten Fakten verzichten: Eine Evidenz ohne Realität wäre bloßer Solipsismus (und dieser bedarf keiner wahrheitstheoretischen Fundierung); wenn die Kohärenztheorie über einen märchenhaften Inhalt hinausgehen will, wird sie auch die Realität einbeziehen müssen und ihre Kohärenz an der Wirklichkeit messen lassen müssen; ebensowenig ist zu sehen, worüber die am idealen Diskurs Beteiligten Einstimmigkeit erzielen können denn über ihre eigene Erlebniswelt. (Ansonsten könnten die Teilnehmer am Diskurs bestenfalls analytische Aussagen diskutieren und diese als analytisch bezeichnen.) Ohne einen Realitätsbezug kann keine Wahrheitstheorie sinnvollerweise auskommen. (Kurz erwähnt Grundmann auch die Redundanztheorie (von ihm zum Deflationismus gerechnet): Eine solche betrachtet die Aussage „p ist wahr“ schlicht als „p“, diese Gleichsetzung sieht aber davon ab, dass es sich hier um Satzbedeutungen handelt, die keineswegs immer äquivalent sein müssen.)

So bricht Grundmann eine Lanze für die Korrespondenztheorie: Es wird auf eine Übereinstimmung zwischen propositionalem Gehalt und der wahrmachenden Tatsache abgezielt. (Dabei ist es wichtig sich vor Augen zu führen, dass Tatsachen selbst keine Propositionen sind: Es gibt Dinge in der Außenwelt, deren Eigenschaften eine Proposition wahr machen.) Einige Einwände sind immer wieder erhoben worden: So meinte Heidegger die Subjektabhängigkeit der Wahrheit dadurch beweisen zu können, dass bestimmte Wahrheiten (etwa wissenschaftliche Erkenntnisse) auch schon wahr gewesen wären, bevor sie entdeckt worden seien. Das aber vergisst, dass in der Korrespondenztheorie die Wahrheit von der Relation von Wahrheitswertträger und Wahrmacher abhängig ist. Und wo kein Träger, kann überhaupt nicht von einer Korrespondenzrelation gesprochen werden. Ein anderer Einwand ist jener von Frege, dass jede Wahrheitsdefinition zirkulär wäre: Man müsse in jeder Definition bestimmte Merkmale angeben, diese aber wären hinwiederum bei ihrer Anwendung darauf angewiesen, dass sie wahr wären. Doch das stimmt so nicht: „p ist wahr genau dann, wenn p mit einer Tatsache übereinstimmt“ muss unterschieden werden von „p ist wahr genau dann, wenn es wahr ist, dass p mit einer Tatsache übereinstimmt“. Nur die zweite Definition wäre zirkulär, das Definiens der ersten Bestimmung ist ein Wahrmacher, eine im Grunde außersprachliche Bestimmung dessen, was für die Wahrheit der Proposition erfüllt sein muss (sie könnte ja auch nicht erfüllt sein).

Grundmann weist darauf hin, dass seine Erörterung keineswegs alle Einwände gegen eine realistische Wahrheitskonzeption, gegen die Korrespondenztheorie ausräumt, dass diese aber im Vergleich mit allen anderen Theorien sehr viel besser abschneidet. Zu kurz kommt in dem Buch meines Erachtens eine der Hauptursachen für das Problematischwerden des Wahrheitsbegriffes: Nämlich die Gleichsetzung von Wahrheit und Gewissheit über viele Jahrhunderte hinweg. Denn es ist gerade dieser Gran an Unsicherheit, der Relativisten das Totschlagargument „aber ganz sicher kannst du dir auch nicht sein“ in die Hand gibt. Trotzdem aber ein sehr lesbares und empfehlenswertes Buch.


Thomas Grundmann: Philosophische Wahrheitstheorien. Stuttgart: Reclam 2018 (ebook)

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