Nach Dada ist vor Dada. Dies mag sich Hugo Ball gesagt haben, als er 1918 – zwei Jahre, nachdem er das Dadaistische Manifest verfasst hatte – den Roman Flametti veröffentlichte. Denn Flametti ist so Anti-Dada, und damit auch so Vor-Dada, wie nur möglich. 1918 nämlich hatte sich Ball bereits wieder von Dada abgewandt, und seine ehemaligen Mitstreiter verstanden denn auch so gar nicht, worum es ihm in Flametti ging.
Hugo Ball selber hat im Laufe der Jahre dem Roman verschiedene Interpretationen angedeihen lassen. Vor allem nach 1920, als er sich wieder dem Katholizismus zugewandt hatte, der in seiner Familie immer schon vorhanden gewesen war, stellte er heilsgeschichtliche Aspekte heraus – und das Mitleid mit den Armen, das ja auch Christus gezeigt habe. In früheren Darstellungen Balls ist der Roman vor allem eines: eine Darstellung des Graziösen, das er in der dadaistischen Bewegung vermisste. L’art pour l’art – und nicht, wie Dada, l’art contre l’art.
Der Protagonist, der sich mit Künstlernamen Flametti nennt, ist Direktor einer kleinen Truppe von Variété-Künstlern. Als solcher ist er verantwortlich dafür, für seine Leute Engagements zu finden und tritt meist auch selber in irgendeiner Funktion auf. Ort der Handlung ist – von einer Exkursion der Truppe nach Basel abgesehen – eine nicht namentlich genannte Stadt in der Schweiz, die unschwer als Zürich erkennbar ist. Noch genauer ist es jenes Quartier der Stadt, in dem sich die verschiedenen Variété-Theater befinden, und wo bunt durchmischt jenes Volk lebt, das man hierzulande einfach das „Milieu“ zu nennen pflegt. Das „Milieu“, das sind kleine, oft arbeitslose Handwerker, Zuhälter mit ihren Vögelchen, Kleinkriminelle und eben jene Klein-Künstler wie Flametti. Hugo Ball nimmt sich die künstlerische Freiheit, in seinem Roman die beiden ‚Hotspots‘ des „Milieus“ seiner Zeit zu einem zu verschmelzen. Er gruppiert um einen Platz, den er Mönchsplatz nennt, was in der Realität zu zwei verschiedenen, etwa drei Kilometer von einander entfernten Lokalitäten gehört. Da ist einerseits das Niederdorf (vom Einheimischen liebevoll im Diminutiv Niederdörfli genannt), das an den Predigerplatz(!) angrenzt, andererseits die Langstrasse, die einige der Hotels und Variétés beherbergte, die Flamettis Truppe bespielt. (Beide Quartiere haben seit 1918 ihren Charakter geändert. Das Niederdorf mutierte ungefähr in den 1970ern zu einer Gegend, wo vor allem kleine, aber gutbürgerliche Handwerksbetriebe zu Hause waren. Heute haben der Tourismus und die selbsternannten It-People das Quartier entdeckt, und die grossen Mode- und Gastro-Ketten verdrängen die diversen Kleinbetriebe. In der Langstrasse hingegen kann es dir zwar auch heute noch geschehen, dass dich morgens um Acht eine dunkelhäutige Dame unbestimmten Alters anspricht und dir ihre Begleitung anbietet, aber auch hier ist das „Milieu“ auf dem Rückzug. Wie es die Hautfarbe der Dame schon andeutet, haben um die Jahrtausendwende vor allem Immigranten aus Afrika und aus Südamerika Einzug gehalten. Die Langstrasse ist international geworden, indem sich Restaurants und andere Dienstleistungsbetriebe, die sich auf die Bedürfnisse jener Leute spezialisiert haben, dort ansiedelten. Dieser internationale Chic wurde dann in letzter Zeit auch vom It-People entdeckt, und heute ist die Langstrasse daran, das Schicksal des Niederdorfs zu teilen.)
Wir erleben im Roman den Aufstieg und Niedergang von Flametti. Als wir ihn kennen lernen, ist er auf dem Weg, im nahe gelegenen Fluss fischen zu gehen. Die gefangenen Fische wird er teils an die Köche der umliegenden Restaurants verkaufen, teils ins eigene Logis zurückbringen, wo er damit ein Mittagessen für seine Leute zubereiten lässt. Mit einem extra für ihn und seine Leute geschriebenen Vaudeville Der letzte Häuptling der Delawaren macht er Furore und kann sogar in Basel auftreten. Dieser Auftritt wird aber Streit in seine Truppe tragen – Streit, der ihm letzten Endes zum Verhängnis wird, indem ihn zwei seiner jungen Darstellerinnen wegen Missbrauchs Minderjähriger (nämlich ihrer selbst) anzeigen. Am Ende des Romans sehen wir Flametti – unterdessen auch im „Milieu“ geächtet und nicht mehr in der Lage, einen Rechtsanwalt zu bezahlen –, wie er in den Zug nach Bern steigt, wo seine Verhandlung stattfindet. Er verabschiedet sich von seiner Frau, die ihn auffordert, sofort zu schreiben, wie es ausging, mit den Worten: Wenn ich nicht schreibe, weisst du Bescheid! Er hat dann nicht geschrieben… Sein Quasi-Nachfolger aber ging mit der Truppe pleite.
Balls Roman ist ein Plädoyer für die Lebenslust jener Leute des „Milieu“, die Karl Marx abwertend das ‚Lumpenproletariat‘ nannte, und das Hugo Ball aus eigener Kenntnis beschrieb. Ball war vor seiner Dada-Zeit selber einige Monate als Pianist für eine solche Variété-Truppe tätig. Man kann denn auch Flametti ebenso wie einige der andern Protagonisten identifizieren – der Roman ist nicht nur ein Schelmen-, sondern auch ein Schlüsselroman. (Was einige der Dargestellten nicht so lustig fanden.) Vom Standpunkt einer sozio-ökonomischen Theorie aus stellt sich Ball zusammen mit Bakunin, der den Begriff ‚Lumpenproletariat‘ ebenfalls positiv besetzt sehen wollte, gegen die bürgerlichen Ressentiments von Karl Marx. Im Roman selber fällt der Begriff ‚Lumpenproletariat‘ kein einziges Mal, wir finden ihn nur in einem als Nachwort verfassten, aber nie veröffentlichten Typoskript Balls. Der Öffentlichkeit musste der Hinweis vom Dandysmus der Armen genügen, der die (vorgeblich) leichte Art und Weise, ein Leben zu führen, jener Gesellschaft am Rande der guten Gesellschaft andeutet.
Formal ist der Roman ganz ‚klassisch‘ gehalten. Das Experimentell-Dadaistische von Tenderenda fehlt völlig. Die Geschichte wird chronologisch von einem allwissenden Erzähler vorgetragen. Ebenso fehlt dem Stil jedes Experimentelle. Er ist tatsächlich ‚graziös‘. Allerdings mischt der Autor nicht nur in der direkten Rede jede Menge Helvetismen ein – einige davon sind allerdings eher Bajuwarismen (was für den Rheinländer Ball dasselbe gewesen sein mag).
Der Roman bietet einen Blick ein eine Welt, in ein „Milieu“, die es so nicht mehr gibt. Dennoch liest man ihn gern und – ich jedenfalls tat dies – mit Vergnügen.
Hugo Ball: Flametti oder Vom Dandysmus der Armen. Wädenswil: Nimbus, 2016