Wieland meinte bei dessen Erscheinen 1780 zu Herrmann und Ulrike: Der beste Roman, der mir jemals vor Augen gekommen. Leider äußerte er diese Ansicht nur privat; gegen außen, z.B. in seinem Teutschen Merkur schwieg er. Was daran lag, der er sich vier Jahre zuvor, beim Erscheinen von Belphegor, mit Wezel, seinem ehemaligen Protégé, verkracht hatte. Es brauchte ja nun gewiss viel, sich mit dem konzilianten Wieland zu verkrachen, der besserwisserische und rechthaberische Querulant (so betitelt ihn Wolfgang Hörner in seinem Nachwort) brachte es zu Stande.
Dabei hätte der Roman Werbung in Form einer enthusiastischen Kritik Wielands durchaus brauchen können. Es gab zwar dann noch eine zweite Auflage, auch ein Raubdruck erschien kurz darauf, sowie eine russische Übersetzung – aber danach, und schon kurze Zeit nach dem ersten Erscheinen, verschwand der Roman von der Bildfläche. Er verschwand nicht nur für das zeitgenössische Publikum. Er verschwand auch für spätere Leser. Ein Versuch vor rund 100 Jahren, den Roman wieder in die Erinnerung der Leserschaft zu rufen, scheiterte. Bis heute ist er, ist Wezel, ein Stiefkind von Forschung und Rezeption geblieben: Das Wezel-Jahrbuch, 1998 gegründet, stellte 2006, nach nur 8 Nummern, sein Erscheinen schon wieder ein; eine kritische Gesamtausgabe der Werke Wezels, 1997 begonnen, scheint nach 5 von 8 geplanten Bänden ebenfalls am Ende zu sein. Dass die vorliegende Ausgabe von Herrmann und Ulrike nun ein Wezel-Feuer entfacht, wage ich angesichts der für die Andere Bibliothek, wo der Roman 2019 in zwei Bänden erschienen ist, üblichen Auflage von 4444 Stück zu bezweifeln. Umso mehr, als es sich um zwei Bände handelt (N° 411 und N° 412), die zusammen die Grenze von € 100.00 im Kauf schon beinahe erreichen.
Herrmann und Ulrike wird also wohl ein Buch für Liebhaber bleiben. Das ist schade. Ein Roman, für den sich Wieland begeistert, kann so schlecht nicht sein. (Anders als bei den beiden anderen Klassikern, Goethe und Schiller, war der literarische Geschmack bei Wieland im Großen und Ganzen treffsicher.) Vielleicht liegt die zögerliche Rezeption auch daran, dass Herrmann und Ulrike kompositorisch und von den Charakteren her seiner Zeit weit voraus war. Kompositorisch-stilistisch könnte man es schon fast „postmodern“ nennen: Als roter Faden existiert zwar ein allwissender Erzähler, der durch das Geschehen führt. Immer wieder aber werden zentrale Dialoge in einer Art Wechselrede präsentiert, die dem Gespräch Tempo und Realismus verleihen. Andererseits sind, da der Erzähler vor allem Herrmann in seinen Taten und Leiden folgt, der Titel des Romans aber zwei Helden kennt, die Erlebnisse von Ulrike – in der Zeit, in der sie von Herrmann getrennt ist – oft in brieflichen Rückschauen gehalten. Aber auch sonst werden Briefe häufig eingesetzt. Wezel gelingt es dabei, jedem Akteur eine eigene Sprache zu verleihen – von der praktisch analphabetischen Mutter Herrmanns bis hin zum gelehrten und eloquenten Hofmeister und nachmaligen Pfarrer Schwinger.
Wezel hat auch das eine oder andere Zückerchen für den genauen Leser eingebaut. Das fängt schon beim Titel des Romans an. Herrmann heißt keineswegs Herrmann. (Während Ulrike tatsächlich Ulrike heißt.) Genauer gesagt: Er heißt schon Herrmann – aber nicht zum Vornamen, wie die Kombination mit Ulrike suggeriert, sondern zum Nachnamen. (Sein Vorname ist Heinrich – wir sind mitten in einer klassischen Sauce. Man hat fast den Eindruck, Goethe – der Wezel alles andere als gewogen war, wenn wir Hörner glauben dürfen (selber habe ich auf die Schnelle keine Äußerungen Goethes zu Wezel gefunden und Hörner gibt keine Quellen an) – Goethe also hätte den Thüringer durchaus gelesen.) Die Verwendung des Nachnamens weist darauf hin, dass es Wezel im Grunde genommen hier weniger um ein Einzelschicksal geht, als vielmehr um eine Art Experiment: Kann – und wenn ja: wie? – ein Bürgerlicher im absolutistischen Duodez-Fürsten-System Deutschlands Karriere machen, ohne jedwede Moral über Bord werfen zu müssen? Wezels Antwort: Er kann – wenn Hunderte von Zufällen sich ereignen, die ihm den Weg ebnen.
Wezels Protagonisten reisen bei ihren Irrwegen durch halb Deutschland. Vor allem die großen Städte bürgerlichen Zuschnitts sind Schauplatz ihrer Irrungen und Wirrungen: Dresden, Leipzig, Berlin. Wezel gelingen dabei in jeder Stadt Beschreibungen des Gewusels, des Hin und Her von Leuten, die machen, dass ich den Roman am liebsten auch als einen der ersten Großstadt-Romane der deutschen Literatur bezeichnen möchte. Da ist z.B. jene witzige, ja komische Szene in Berlin, wo Herrmann zufälligerweise im Französischen Theater weilt, wo er Ulrike ebenso zufälligerweise wiederfinden wird (wieder einmal wiederfinden wird – das Pärchen wird regelmäßig, und regelmäßig durch eigene Dummheit und Vertrauensseligkeit, von einander getrennt). Im Hintergrund aber hören wir Fetzen aus dem gerade aufgeführten Stück. Es handelt sich dabei um Bérénice von Racine. Der Leser schließt daraus, dass Herrmann (wie Titus in Racines Drama) seine Liebe zu Ulrike aus einer Art Staatsraison verraten könnte. (Er tut es dann nicht, aber das ist einmal mehr dem reinen Zufall geschuldet.)
Abgeschlossen wird die vorliegende Ausgabe durch ein Nachwort von Wolfgang Hörner: »Mit Dampf und Knall«: Über den »sonderbaren Meteor« Johann Karl Wezel und das Elend des deutschen Skeptizismus. Darin geht Hörner nicht nur auf die Rezeptions- und Publikationsgeschichte dieses Romans ein, sondern auch auf weitere Werke Wezels und auf seine (intellektuelle) Biografie. So erfahren wir beispielsweise, dass auf Wezel die Lektüre der Werke von John Locke eine ähnliche Wirkung ausübte, wie die von David Hume auf Kant.
Ich habe mich damals bei meinem Text zu Belphegor nur mäßig begeistert geäußert. Herrmann und Ulrike aber ist um Klassen besser, als der schematisch geratene Belphegor. Noch immer will Wezel ein Exempel statuieren; aber vier Jahre später gelingt es ihm so gut, dass der Leser das über weite Strecken vergisst. Nur der Dritte Band, Siebenter Teil weist Längen auf – bezeichnender Weise dort, wo die ahnungslosen Liebenden im Hin und Her der um sie herum sich ereignenden Intrigen verloren gehen, und mit ihnen der rote Faden der Geschichte und der eigentliche Zweck dieses literarischen Experiments. Auch wenn die beiden Bände der Anderen Bibliothek recht teuer sind – man sollte sich Herrmann und Ulrike gönnen.