Abteilung II der Beneke-Tagebücher schließt die Lücke zwischen den Jahren 1802 und 1811, die Verlag und Herausgeber aufgerissen haben, als sie 2016 beschlossen, nach der ersten Abteilung gleich die dritte zu veröffentlichen, weil damit der Jahrestag der Befreiung Hamburgs von Napoléon begangen werden konnte.
Dass nun erst Abteilung II erscheint, hat für den Leser den seltsamen Nebeneffekt, dass nicht nur Welt- und Lokalpolitik um ein paar Jahre zurückgestellt werden. (Die auch: Hamburg ist 1802, dem Jahr, mit dem Abteilung II beginnt, noch eine Art Vasallenstaat unter französischer Besetzung, weder Teil des französischen Staats noch ganz und gar unabhängige Hansestadt.) Auch in der persönlichen Entwicklung des Ferdinand Beneke finden wir uns zurückgeworfen. Wir hatten ihn als glücklich verheirateten Familienvater angetroffen und auch verlassen, als nicht unwichtige Figur in der Hamburger Politik und als warmen Verfechter einer Wiederherstellung des alten Hanse-Bundes. Vor allem aber: glücklich verheiratet.
Jetzt, 1802, finden wirden Jüngling wieder, der auch als Endzwanziger noch in die Verlobte seines besten Freundes verliebt ist. Er lauert auf die kleinsten Beweise dafür, dass auch er der jungen Frau (Charlotte de Chaufepié) nicht ganz egal ist. Seinem Freund, Johann Jakob Rambach, der gleichzeitig sein Hausarzt ist, wirft er dabei andauernd Verletzung der freundschaftlichen Pflichten vor, wenn der auf die Lektüre der C. betreffenden Blätter der Tagebücher einigermaßen reserviert reagiert. Dann wieder glaubt Beneke, nun seinen Dämon besiegt zu haben, und mit den beiden, die 1803 heiraten, auf rein freundschaftlichem Fuße verkehren zu können – nur, um wenige Tage später wieder im alten Fahrwasser zu stecken. Das wird im ersten Band der zweiten Abteilung, den wir vor uns haben, auch so bleiben. Benekes zukünftige Frau ist noch nicht am Horizont erschienen – jedenfalls nicht als solche. Beneke ist auch felsenfest davon überzeugt, nie einer anderen Frau dieselben Gefühle entgegen bringen zu können, wie C. Bei der Lektüre von Goethes Leiden des jungen Werthers kann er nicht umhin, die Situation Werthers mit der eigenen zu vergleichen, sich mit Werther, seine Charlotte mit Werthers Charlotte und R. mit Albert.
Beneke unternimmt in den Jahren von 1802 bis 1804 keine großen Reisen. Berlin, Lübeck, Bremen oder Hannover sind die wichtigsten Destinationen. Diese Reisen sind ziemlich sicher auch politisch motiviert; insgeheim klärt Beneke wohl die Chancen Hamburgs ab, mit Hilfe eines neuen Hanse-Bundes oder mit Hilfe Preußens von Frankreich los zu kommen. Ob er dafür von irgendwem Auftrag hatte, lässt sich aus den Tagebüchern nicht erkennen. (Die erzählen ja lange nicht alles. Nicht nur, dass Beneke immer wieder bei einem Thema abbricht und meint: Dazu demnächst mehr, ohne dass demnächst dann mehr käme; gewisse Dinge blendet er offenbar bewusst aus. So, wenn wir 1802 plötzlich einen Eintrag finden, in dem er befürchtet, sich mit Syphilis angesteckt zu haben – ohne je erzählt zu haben, wo, wie und bei wem das geschehen sein könnte. Das gut-bürgerliche Hamburg kannte durchaus auch Schattengestalten, und Doppelleben ebenso wie Doppelmoral.)
Beneke war, was man heute einen Bildungsbürger nennt. Er geht pflichtschuldig ins Theater und in die Oper. Nicht alles, was er sieht und hört, ist von bester Qualität, aber es gibt doch ein paar Autoren, die für Beneke immer wieder herausragen. Die Namen wundern einen nicht: Es sind im Theater Schiller und – vor allem – Lessing. Regelmäßig findet man ihn auch bei Opern-Aufführungen; da ist es vor allem Wolfgang Amadeus Mozart, der bei ihm einen großen Eindruck hinterlässt – auch das wundert höchstens, wenn man bedenkt, wie wenig sich der Beneke der Abteilung I überhaupt in Schauspiel- oder Opernhäusern herumgetrieben hat. Von der Musik kann man sagen, dass er sie erst in den hier vorliegenden Jahren entdeckt. (Er lernt nun auch Klavier spielen. Das erste Stück, das er beherrscht, stammt von Mozart…)
Daneben nimmt er an vorderster Front an der Beerdigung Klopstocks teil – jedenfalls weiß er im Detail davon zu erzählen. Zwei preußische Adlige, Brüder, schauen auf ihrer Kavalierstour durch Europa auch in Hamburg herein. Beneke trifft sie. Vor allem der jüngere der Brüder, ein gewisser Achim von Arnim, macht auf ihn Eindruck. Gibt es erste Kontakte zu Perthes? Zumindest seine Buchhandlung besucht er einmal und hält den Besuch für notierenswert, auch wenn da nichts weiter zu erzählen war. Politisch ist es Napoléons Krönung zum Kaiser, die ihm – gelinde gesagt – Unbehagen bereitet. Er sieht den frisch gebackenen Kaiser als reinen Machtmenschen, der keine Ruhe haben wird, bevor er nicht auch Großbritannien unterjocht und die Herrschaft auf den Weltmeeren hat. Deshalb die ersten Anzeichen eines konspirativen Beneke, der vor allem mit Preußen Kontakte sucht.
Ganz allgemein lässt sich in den Jahren, die Band II/1 abdeckt, eine interessante Entwicklung bei Beneke feststellen. (Wenn wir einmal von seiner Liebesgeschichte absehen.) Zu Beginn des Jahres 1802 notiert er in seinem Tagebuch die Monate und Jahre sowohl in der üblichen Standardzählung wie in der Terminologie und Zählung, die die Französische Revolution in Gang gebracht hat. Der Übergang in den Oktober 1802 findet dann ganz ohne die bisher übliche Monatsüberschrift statt, ebenso der in den November. Erst der Dezember hat dann wieder eine – nun aber fehlt die ‚französische‘ Zählung ohne weitere Erklärung. In Zukunft werden die Monate nur noch auf Deutsch angegeben werden. Oder dann wird Beneke noch zu Beginn des Jahres 1802 eine Feier bei den Freimaurern erwähnen, nur um am Jahresende zu vermelden, er habe die Freimaurerei abandonnirt. Last but not least: Immer wieder einmal erwähnt Beneke mit heimlichem Stolz, dass er einen Cigarro geraucht haben. Beneke ist sich selber seiner Entwicklung bewusst, und in einem Extrablatt zum 31. Dec. 1804 beschreibt er diese wie folgt:
Die Politik ist mir seitdem gleichgültig geworden. Ich weiß nur noch, daß ich ein Deutscher bin, u. demnächst ein Mensch. Der Welt Bürger liegt in meiner Polter Kammer, und der Republikaner hat einstweilen dem Menschen Kenner das Feld geräumt. Die Zeitungen lese ich mit Ekel, und Resignazion. Sollte ich doch noch etwas Politisches wünschen, so wäre es ein zweyter Karl der Große für Deutschland – von Preussens Stamme.
Ferdinand Beneke: Die Tagebücher. Tagebücher 1802 bis 1804. Göttingen: Wallstein, 2019.