Über knapp 300 Seiten suggeriert der Autor, ständig am Smartphone der Mächtigen mitgelesen zu haben, er berichtet von Telefongesprächen oder aber weiß, was jemand privat vor dem Fernseher aufgrund der Berichterstattung von sich gab. Das mag manchmal nachvollziehbar sein, auch verständlich und der Realität entsprechen, allerdings kann der Wahrheitsgehalt des Dargestellten weder überprüft noch kritisiert werden. Diese Mischung aus (vermeintlich) persönlicher Beobachtung und Allerweltswahrheiten (wer die Nachrichten der damaligen Zeit aufmerksam verfolgt hat, erfährt nicht wirklich viel Neues, bestenfalls das, was er mit mehr oder weniger guten Gründen schon vermutet hat) ist für ein Buch, das vorgibt, die Hintergründe der Entscheidungen zu beleuchten, ziemlich unbefriedigend.
Zusätzlich skeptisch bezüglich der Faktentreue des Berichteten lässt mich der Teil über Österreich werden: Da werden die Politikernamen noch nicht einmal richtig geschrieben (soviel Recherche darf schon sein) oder auch großspurig über den „intellektuellen Kopf des linken Österreichs“, Robert Misik, schwadroniert. Ich will Herrn Misik wahrlich nicht zu nahe treten, fürchte aber, dass diese „Führungsfigur“ der Linken bei dieser selbst nicht bekannt sein dürfte (er ist ein Journalist, der für den Falter schreibt/geschrieben hat?). Und solche Sätze machen Alexander schlicht unglaubwürdig: Er trägt mit Verve und Selbstsicherheit Ansichten als Fakten vor, die man wohlwollend als persönliche Meinung oder auch weniger entgegenkommend als Unsinn bezeichnen müsste.
Das Buch mag für Leser sein, die diese Zeit rekapitulieren und ihr Erinnerungsvermögen auffrischen wollen, wobei man sich dessen bewusst sein sollte, dass es sich hier um die sehr persönliche Sichtweise eines Journalisten handelt. Viele von den den Politikern unterstellten Überlegungen sind plausibel und die daraus resultierende Einschätzung, dass man in hohen Regierungskreisen häufig nicht weiß, was man tut oder tun soll, teile ich. (Dass Alexander als „Hofschreiber“ der Kanzlerin bezeichnet wurde, kann ich im übrigen nicht nachvollziehen: Sie kommt im Buch nicht wirklich gut weg.) Doch dieser Beschreibungsmodus der Ereignisse wird nie verlassen, weshalb manch implizite Kritik (etwa an der ersten Grenzöffnung, als die ungarischen Autobahnen von Flüchtlingen überquollen) ein wenig billig erscheint. Mir ist nicht klar, was man – um humanitäre Katasrophen zu vermeiden – damals hätte anders oder besser machen können. Dass man in weiterer Folge hätte auch überlegter agieren können (vor allem die Solidarität der europäischen Mitgliedsländer nicht erst hätte einfordern dürfen, als man – nach zahlreichen flüchtlingsfreien Jahren im Zentrum Europas aufgrund des Dublin-Abkommens – plötzlich das Gemeinsame entdeckt hatte, aber zuvor die Mittelmeerstaaten immer allein gelassen hatte) steht außer Zweifel. Und nicht nur die damalige, auch die heutige Migration (v. a. aus Afrika) sind hausgemachte Probleme (die sich früher oder später wieder zu einer „Krise“ auswachsen werden). Dann wird man bedauern, dass man nicht früher auf wirtschaftliche Zusammenarbeit gesetzt hat, die den afrikanischen Staaten eine faire Entwicklung ermöglicht hätte (oder auch feststellen, dass aufgrund der Klimaerwärmung plötzlich große Landstriche unbewohnbar geworden sind) und die Hände über den Kopf zusammenschlagen ob der nächsten Migrationswelle. Weil Politik in den letzten Jahren (Jahrzehnten) sich zunehmend an Meinungsumfragen orientiert und der Zeitrahmen, für den geplant wird, niemals länger als eine Regierungsperiode dauert. Man muss kein großer Prophet sein für solche Prognosen, die Regierenden aber – und auch das ist eine Vorhersage ohne viel Risiko – werden fürchterlich überrascht tun.
Robin Alexander: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik. München: Siedler 2017.