Im Oktober 1928 hielt Virginia Woolf zwei Vorträge vor Studentinnen des Newnham College bzw. des Girton College – den beiden Colleges der Cambridge University, die Frauen aufnahmen. Ein Jahr später, im September 1929, erschien eine erweiterte Version der Vorträge bei der Hogarths Press, mit Holzschnitten von Woolfs Schwester Vanessa. Heute gilt A Room of One’s Own als eines der wichtigsten Manifeste des Feminismus des 20. Jahrhunderts.
Das Thema der beiden Vorträge lautete, wie wir aus den einleitenden Worten zu Kapitel 1 erfahren, Women and Fiction – Frauen und Fiktion. Doch, so fährt Woolf weiter, was gibt es dazu eigentlich zu sagen? Soll sie einen weiteren literaturgeschichtlichen Abriss des Lebens und der Werke einer Jane Austen liefern? Der Brontë-Schwestern? Und dann – wer wäre da allenfalls noch relevant? Vielleicht noch George Eliot? Elisabeth Gaskell? (Im weiteren Verlauf des Essays wird Virginia Woolf noch Christina Rossetti das eine oder andere Mal zitieren. Damit aber hat es sich schon. Mary Shelley fehlt ebenso wie Ann Radcliffe. Vermutlich hielt Woolf den romantischen Schauerroman nicht für erwähnenswert, kannte die beiden Autorinnen eventuell gar nicht.) Es sind so wenige Frauen, die es in der Literatur zu Bekanntheit gebracht haben. Warum eigentlich?
Dieser Frage geht Woolf im Folgenden nach. Sie behandelt ihr Thema dabei, indem sie zwei Argumentationsstränge aufbaut und miteinander verflicht. Dazu kommt ein dritter, eher unterschwelliger, der sich mit beiden berührt. Woolf nimmt sich ihner an, indem sie sie mit einem (fiktiven?) Spaziergang verknüpft, den sie in „Oxbridge“ gemacht haben will, als sie über das Thema Women and Fiction nachzudenken begann. So ganz nebenbei schildert sie, wie sie von einem Pedell vom Rasen eines College gejagt wurde, weil den nur die männlichen Fellows betreten dürfen, und wie ihr – auf der Suche nach weiterer Information – der Zutritt zur Universitätsbibliothek vom gleichen oder zumindest einem gleich aussehenden Pedell verwehrt wurde, weil Frauen dort allenfalls in Begleitung eines Fellows, nur als Besucherinnen also, nicht als selbständige Forscherinnen, Zutritt haben. Sie wird nach einem Mittagessen mit Freunden der Sache in ihrer eigenen Bibliothek nachgehen, von Zeit zu Zeit einen Band aus dem Regal ziehend und an Hand von dessen Titel oder Autor dem Thema weitere Gedanken hinzufügend. Mit dieser den ganzen Essay durchziehenden Fiktion entzieht sich Woolf jedem Anspruch, den ein eventueller Literaturtheoretiker an ihren Text stellen möchte – ohne darauf zu verzichten, doch (unter anderem) eine Literaturtheorie aufzustellen.
Woolf erster Argumentationsstrang ist das Thema der Produktion von Literatur. Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit überhaupt jemand, egal ob männlich oder weiblich, Literatur produzieren wird? Mit dem Beispiel einer fiktiven Schwester von William Shakespeare macht Woolf ihren Punkt klar: Angenommen, so eine Schwester hätte existiert, was wäre ihr Schicksal gewesen? Sie hätte eben so klug, eben so begierig, die Welt zu sehen und zu erobern, sein können wie ihr Bruder: Ihre Eltern hätten ihr die Bücher weggenommen, die sie lesen wollte, damit sie den Haushalt führe. Anstatt sie Schauspielerin werden zu lassen, hätte ihr der Manager der Truppe ein Kind gemacht, worauf sie sich der Schande wegen selbst getötet hätte. Bestenfalls hätte ihre Eltern sie jung verheiratet, worauf sie in Sorge für Haushalt und Kinder ihres Mannes langsam zu Grunde gegangen wäre.
Aus der Beschreibung des Leben dieser fiktiven Shakespeare-Schwester zieht Woolf den wichtigsten Schluss dieses Essays: Frauen haben keine Chance in der Literatur, so lange sie juristisch nicht vollgültige Personen sind, in der Lage, über ihr Leben selber zu bestimmen. In der Lage vor allem, auch Geld zu haben. Zu Shakespeares Zeit, und noch lange danach, standen die Frauen de facto und de jure immer unter männlicher Vormundschaft. Auf den Vater folgte der Gatte. Falls der unerwartet vor ihr verstarb, war es ein Onkel oder gar der eigene Sohn, der als ihr Vormund und als der Erbe jedweden Vermögens galt, das der Frau hätte zufallen können. War sie unverheiratet geblieben, so konnte es auch ein Bruder oder Vetter sein, der als Vormund über sie waltete. Virigina Woolf findet dafür das Bild eines eigenen Zimmers, auf das sie kommt bei der Beschreibung der Arbeitsbedingungen von Jane Austen. In seiner Biografie A Memoir of Jane Austen hat ihr Neffe James Edward Austen-Leigh beschrieben, wie Tante Jane im allen zugänglichen Wohnzimmer sass, an ihren Romanen schrieb, aber bei jeder Störung ihre Texte unter einem „harmlosen“ Papier wie einer Haushaltsrechnung versteckte. Dass Jane Austen unter diesen Bedingungen überhaupt einen Roman zu Ende brachte, grenzt für Virginia Woolf an ein Wunder. Ein eigenes Zimmer, natürlich mit abschließbarer Türe, bildet die minimale Voraussetzung dafür, dass eine Frau künstlerisch tätig werden kann.
Ein Nebenaspekt dieses Themas ist die Sexualität. Nicht nur dass der junge Graf genügend Geld hatte: Tolstoi durfte sich als Mann auch jede Menge sexueller Eskapaden leisten. Mary Ann Evans (a.k.a. George Eliot) versteckte sich in einem Haus in der Provinz, um mit dem dem geliebten, aber verheirateten Mann zusammen leben zu können. Sexuelle Freiheit ist die Konsequenz ökonomischer Freiheit. Ich komme weiter unten darauf zurück.
Geld garantiert vor allem eine gute, breit gefächerte Bildung und Erziehung. Erst seit relativ kurzer Zeit gibt es in „Oxbridge“ Colleges, die Frauen aufnehmen. Und wie arm sind diese Colleges im Vergleich zu den „männlichen“! Warum? Weil es keine großen Stifterinnen gibt, keine geben kann: Frauen verfügen kaum über eigenes Vermögen, das sie frei weitergeben könnten. Das Thema Geld spiegelt sich auch im Privatleben der Autoren und Autorinnen. Wie viele der großen Autoren der englischen Literatur konnten es sich überhaupt nur deshalb leisten zu schreiben, weil sie reiche Söhne reicher Väter waren?
Der zweite Argumentationsstrang bezieht sich auf Produktion und Rezeption von Literatur zugleich. Virginia Woolf stellt fest, dass es gewisse Bücher von gewissen Autoren gibt, die vom weiblichen Publikum weniger geschätzt werden, weil sie sich vor allem bei Äußerlichkeiten aufhalten. Da nicht generell alle (männlichen) Autoren bei diesem Test durchfallen, und reine Innerlichkeit ohne Äußeres auch nicht interessant ist, kommt Virginia Woolf zum Schluss, dass Literatur in Rezeption wie in der Produktion immer eine männliche und eine weibliche Seite hat. Kipling oder Galsworthy sind allzu männlich. Die faschistische Propaganda in Italien, die gerade zu jener Zeit eine „männliche Kunst“ fordert, beäugt Woolf misstrauisch – nicht nur vom feministischen Standpunkt aus hält sie das für schlecht. Sie ist eindeutig der Meinung, dass „männliche Kunst“ nicht der ästhetische Höhepunkt ist, für den ihn Mussolini offenbar hält. Es ist die Mischung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die es ihrer Meinung nach ausmacht. Shakespeare, Keats, Sterne oder Coleridge zum Beispiel schrieben in einer Art, die Woolf androgynous (androgyn – zwiegeschlechtlich) nennt. Es gibt mehr oder weniger ausgewogene Mischungen: Milton, Wordsworth, Tolstoi oder Ben Jonson waren ein bisschen zu männlich; Proust hatte perhaps a little too much of a woman. (Im Hintergrund dieser ästhetischen Theorie lauert ganz offensichtlich Otto Weiningers These, dass jeder Mensch innerlich zu einem bestimmten Prozentsatz männlich und zum restlichen Prozentsatz weiblich ist – ein Homosexueller ist zwar äußerlich männlich, aber innerlich überwiegt sein weiblicher Anteil. Da jede (sexuelle) Beziehung nur funktioniert, wenn sich die männlichen und weiblichen Anteile der beiden Beteiligten zu 100 addieren, ist für Weininger auch klar, dass eine wirklich reine homosexuelle Beziehung nicht existieren kann.)
Womit wir beim dritten Thema wären, das Woolf immer wieder ganz unauffällig dazwischen flicht: neben der wirtschaftlichen und der intellektuellen Freiheit geht der Frau auch die sexuelle Freiheit ab. Nicht nur, dass sie ungewünscht und ungefragt Sex mit Männern zu haben hat, daraus allenfalls resultierende Kinder selbst dann nicht abtreiben darf, wenn es sich definitiv um eine Vergewaltigung gehandelt hat. Selbst in puncto Homosexualität war sie weniger frei als die Männer. Natürlich war ein Oscar Wilde wegen Homosexualität verurteilt worden; aber das Urteil war in ebenso grossem Masse ein Klassenurteil, weil er es gewagt hatte, Hand an einen Sohn aus der Upper Class zu legen. Virginia Woolf bringt Beispiele dafür, wie in der Literaturkritik selbst Andeutungen lesbischer Liebe einer rigiden Zensur unterzogen werden, Autoren, die so etwas wagen, vor Gericht gezerrt und dort auch verurteilt werden. Vom realen Leben ganz zu schweigen. Wenige Frauen waren, das wusste Virginia Woolf sehr wohl, in der Lage, eine weibliche Geliebte zu haben, so wie sie sie zu jener Zeit gerade in Vita Sackville-West hatte.
Alles in allem haben wir hier einen Essay vor uns, der in vielem noch immer noch Gültigkeit hat. Selbst wenn der implizite Bezug auf Weininger und die Theorie einer androgynen Literatur heute etwas seltsam erscheinen: Auch im 21. Jahrhundert noch werden schreibende Frauen nicht für voll genommen. Auch im 21. Jahrhundert sind schreibende Frauen männlicher Hoheit im Sexuellen wie auf dem Gebiet der Literaturkritik unterworfen, und oft mischt sich auch beides. Und dies gilt selbst für angeblich so progressive Gesellschaften, wie es die mitteleuropäischen gerne wären. Vom Schicksal nicht-schreibender Frauen einmal ganz zu schweigen.