In diesem, seinem neuesten Buch, werden Krisen analysiert, Krisen von Ländern, deren Situationen oft unterschiedlicher nicht sein könnten (etwa Indonesien, Japan, Deutschland und Chile), die aber trotzdem durch das Prekäre ihrer Lage verbunden sind. Diamond vergleicht diese Staatskrisen mit persönlichen Krisen und versucht dadurch, das Verhalten der Regierenden (bzw. des Volkes) verständlich zu machen. (Ob das immer gelingt bzw. ob das tatsächlich eine so gute Idee war, habe ich manchmal bezweifelt: Diamond arbeitet 12 für ihn relevante Punkte heraus, die in individuellen Lebenskrisen von Bedeutung sind und zieht anhand dieses Kataloges Parallelen, die aber m. E. manchmal etwas konstruiert wirken.) Dabei geht es um die Möglichkeiten und Chancen, die solche Situationen bieten, Chancen, die zwischen stupenden Krisenmanagement und völligem Versagen changieren.
Einleitend wird Finnlands schwieriges Verhältnis zur Sowjetunion (und dem späteren Russland) beschrieben, ein Verhältnis, das vom Winterkrieg 1939 geprägt wurde, in dem sich die Finnen dem übermächtigen Gegner mit aller Entschlossenheit entgegenstellten und in dem sie – noch wichtiger – die Erfahrung machen mussten, dass sie von keinem anderen Land Hilfe erwarten konnten (so hat etwa Edouard Daladier seine Versprechen nur als Vorwand benutzt, um Frankreich gegenüber von Deutschland (vergeblich) in eine bessere Position zu bringen). Diese Erfahrungen haben zu der häufig abschätzig als „Finnlandisierung“ beschriebenen Politik geführt: Vorsicht und Anerkennung des mächtigen Nachbarn (wobei allerdings auch klar gemacht wurde – wie schon im Winterkrieg – dass militärische Übergriffe nur unter enormen Verlusten von Erfolg gekrönt sein würden), Einflussnahme auf Innenpolitik und sogar Pressefreiheit – und all das aus dem Wissen heraus, dass Finnland im Zweifelsfall auf sich allein gestellt sein würde. Trotzdem gelang den Finnen die Annäherung an und der Eintritt in die EU und der Staat wurde zu einem erfolgreichen High-Tech-Land, dessen PISA-Ergebnisse von anderen westlichen Staaten mit Neid betrachtet werden.
Weitere Beispiele für spezifische Krisensituationen sind das Japan der Meiji-Ära (bis 1853 versuchte Japan sich von der Außenwelt völlig abzuschotten, wiewohl es die Begehrlichkeiten imperialistischer Staaten in China genau beobachten konnte) nach der Ankunft des us-amerikanischen Flottenkomandanten Perry, die den Beginn einer militärisch erzwungen Öffnung des Landes einleitete. Innerhalb von 40 Jahren gelang es den Japanern unter teilweiser Beibehaltung ihrer Traditionen zu einem modernen Staat zu werden und eine Streitmacht aufzustellen, die eine Erniedrigung wie 1854 unmöglich machen sollte. Diamond zeigt die entscheidenden Punkte, die zu einer solch raschen Änderung führten, er zeigt aber auch die Ursachen für die Überschätzung der japanischen Macht während der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, die dem Inselreich eine verheerende Niederlage im Zweiten Weltkrieg einbrachte. (Und er analysiert später die Probleme des rezenten Japan, seiner Bevölkerungsstruktur bzw. seiner antiquierte Einwanderungspolitik und seinen uneinsichtigen Umgang bezüglich der Schuldfrage und der Gräuel des Weltkrieges.)
Auf ähnliche Weise verfährt Diamond bei den anderen von ihm ausgewählten Ländern: Deutschland unter Bismarck, Wilhelm II, die Weimarer Republik und Hitler und schließlich die Änderung der Ostpolitik der BRD unter Brandt, die auch einen Paradigmenwechsel bezüglich der Einschätzung der nationalsozialistischen Verbrechen bzw. der Verfolgung dieser Verbrechen einleitete; Chile unter Salvador Allende und nach dem Putsch unter Pinochet (wobei für meine Empfinden die Bedeutung der us-amerikanischen Unterstützung bei diesem Putsch ein wenig vernachlässigt wurde); Indonesion unter Sukarno und Suharto, zweier widersprüchlicher Diktatoren nebst einem Bürgerkrieg mit fast einer halben Million Opfer, die noch heute totgeschwiegen werden; Australien, das im und nach dem Zweiten Weltkrieg die Erfahrung machen musste, dass es sich nicht auf seine Schutzmacht Großbritannien verlassen konnte und daher neue politische Strategien zu entwickeln gezwungen war. Eine weitere Untersuchung beschäftigt sich mit den USA und deren heutigen Problemen, wobei Diamond bemüht ist, größere Zusammenhänge zu analysieren (auch wenn Donald Trump im Hintergrund spürbar ist, wird er vom Autor mit keinem Wort erwähnt). Das nach seinem Dafürhalten größte Problem, die Zerrissenheit der Amerikaner und ihrer zunehmend extremen, zu keinen Kompromissen bereiten Haltung, scheint sich für ihn seit etwa 20 Jahren sukzessive zu verstärken; die zwei den USA gewidmeten Kapitel gehören zum Interessantesten im ganzen Buch (einige der Problematiken, etwa die Schwierigkeiten bei der Wahlregistrierung für sozial Schwächere, waren für mich Neuland).
All das wird ungemein kenntnisreich dargestellt, in einer wunderbar klaren Sprache und mit viel Feingefühlt für Nuancen. Ob allerdings der Wunsch Diamonds, dass diese natürlich nicht repräsentativen Analysen durch zahlreiche weitere Untersuchungen so ergänzt werden können, um eine Art naturwissenschaftlich-statistische Krisenbewältigung in Angriff nehmen zu können, realistisch ist, will ich bezweifeln. Selbstverständlich sind Vergleiche möglich (und auch wünschenswert), natürlich könnte man aus Geschichte lernen oder aus den Reaktionen der entsprechenden Staaten (wie denn auch Menschen – manchmal – lernfähig sind), insgesamt aber scheinen mir zwei Gründe gegen eine solche Auffassung zu sprechen: Zum einen das Einzigartige der Geschichte an sich (das sich solcher Subsumption gegenüber sperrig zeigt) als auch die Verfasstheit (Torheit) der Regierenden, denen sehr viel weniger an der Prosperität ihrer zu verwaltenden Länder liegt denn am kurzfristigen, persönlichen Erfolg. Vorausschauende Politik scheint weniger denn je gefragt zu sein, wer längerfristig denkt, entsprechende, oft unpopuläre Maßnahmen trifft, darf nicht mit der Nachsicht der Wähler rechnen. Sondern mit der garantierten Abwahl beim nächsten Volksentscheid. Insofern gäbe es nur für Idealisten Gründe, aus den geschichtlichen Ereignissen rationale Schlüsse zu ziehen: Die unter den derzeit an der Macht Befindlichen (wo auch immer in der Welt) eine sehr rare Erscheinung zu sein pflegen. – Ich halte das Buch nicht für das Beste von Diamond, habe die Lektüre aber dennoch genossen und kann es mit gutem Gewissen weiter empfehlen.
Jared Diamond: Krise. Wie Nationen sich erneuern können. Frankfurt a. M.: Fischer 2019-