Marie: so heißt die Ich-Erzählerin dieses kleinen Romans, und so heißt auch die Autorin. Die Ich-Erzählerin hat keinen Familiennamen. Dafür hat sie denselben Beruf ausgeübt wie die Autorin: Psychoanalytikerin. Beide haben diesen Beruf aufgegeben; beide haben ihn fürs Schreiben aufgegeben. Viel mehr, als dass sie bis 2017, also bis zu dem Erscheinungsjahr von Notre vie dans les forêts, als Psychoanalytikerin gearbeitet hat und tatsächlich im Erscheinungsjahr dieses Romans das offenbar aufgegeben hat, weiß ich nicht über Marie Darrieussecq. Ob wir daher konkretere autobiografische Bezüge in Unser Leben in den Wäldern ausmachen könnten, vermag ich nicht zu entscheiden. Falls ja, dann sind sie so gut versteckt, dass sie unser Lesevergnügen nicht stören.
Zeitlich befinden wir uns in dem, was der Klappentexter in einem für Klappentexte typischen Rückgriff auf schlimmste Gemeinplätze eine gar nicht so ferne Zukunft nennt. Formal haben wir eine Art Tagebuch der ehemaligen Psychoanalytikerin Marie vor uns, geschrieben in einem flüchtigen, gehetzten Stil. Marie vergisst, holt nach, greift vor, greift zurück – die Einträge wirken ungeheuer echt. Marie lebt jetzt mit einer Handvoll anderer Flüchtlinge in den Wäldern. Sie ist geflüchtet vor dem allgegenwärtigen Zugriff des Systems, in dem sie bisher lebte, und jetzt mit einer Gruppe unterwegs, die offenbar alle vor diesem System geflohen sind. Diese Rebellen werden mit einer Ausnahme nicht näher dargestellt. Sie sind zwar bewaffnet, führen aber offenbar keinen offensiven Kampf gegen das System. Nur einen ums Überleben. Sie haben sich die verschiedenen Chips, mit denen der Staat sie überwacht hat, aus dem Leib geschnitten und versuchen nun, ihr Leben außerhalb des Systems, eben in den Wäldern, zu fristen. Man scheint sie auch nicht allzu heftig zu suchen, aber das ist auch nicht wichtig.
Als wichtig für den Leser entpuppt sich dafür immer mehr die Vorgeschichte der Marie. (Insofern ein echt psychoanalytischer Roman!) Indem Marie, die zunächst gar nichts begreift, erzählt, wie sie dazu gekommen ist, dem herrschenden System zu entfliehen, erfahren wir immer mehr über dieses System. Vieles bleibt im Dunkeln, weshalb ich lieber von einem „System“ rede als von einem „Staat“, denn ob zu Maries Zeit überhaupt ein Staat existiert, bleibt dem Leser ebenso unklar wie wohl Marie selber. Marie ist keine ‚politisch bewusste‘ Person; das will das System wohl auch gar nicht. Dafür sieht es vor, dass jeder Einwohner seinen Klon hat, der in einer Art Stasis ohne Bewusstsein gehalten wird, und dem man bei Bedarf Ersatzbestandteile entnimmt. Man kennt seinen Klon und kann ihn besuchen. Diesen ihren Klon hat Marie, wie die anderen Rebellen auch, mit in die Wälder genommen, ihn, bzw. eigentlich sie, aufgeweckt und bringt ihr nun das Gehen und das Sprechen bei.
Marie Darrieussecqs Roman beeindruckt durch die immer beklemmender und düsterer werdende Stimmung, die er aufbaut. Und durch die Schlusspointe. Ich bin auf die Autorin aufmerksam geworden, als sie damals in jener Arte-Dokumentation über Arno Schmidt sozusagen die Quoten-Französin darstellte, die auch über Schmidt reden durfte. Sie wagte etwas, was wohl kein deutscher Kritiker oder Autor gewagt hätte: Sie stellte Arno Schmidt ganz offen in die Tradition der Science Fiction. Das Interview ist vor der Veröffentlichung des vorliegenden Romans entstanden; aber ich kann nun Marie Darrieussecq nach der Lektüre von Unser Leben in den Wäldern attestieren, dass sie den guten Arno wirklich gelesen hat. Nicht, dass sie dessen orthografischen oder typografischen Mätzchen übernommen hätte – die Sprache der Ich-Erzählerin ist geradezu unauffällig, wenn auch gewollt gehetzt und gewollt flüchtig. Aber sie hat von Arno Schmidt gelernt, eine Pointe zu setzen. Die zum Schluss enthüllte Pointe ist nicht die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin sterben wird, sondern der Grund ihres Todes, den sie noch erfährt und dem Leser mitteilt. Ich will diese Pointe hier nicht verraten, nur, dass Arno Schmidts überraschende Lösung eines Überlebensproblems, die er in KAFF auch Mare Crisium entwickelt hat, mutatis mutandis für Marie Darrieussecqs Unser Leben in den Wäldern Pate gestanden hat.
Keine ganz grosse Weltliteratur, aber gut gemacht, spannend und eben mit einer richtig guten Pointe.
Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern. Aus dem Französischen von Frank Herbert. Zürich: Secession Verlag für Literatur, 2019