Davon am wenigsten berührt wird der Beitrag über den Mielke-Prozess, ein Verfahren, das insofern kurios anmutete, weil der Angeklagte nicht wegen seiner Verbrechen als Chef der Stasi-Behörde vor Gericht stand, sondern wegen eines Polizistenmordes im Jahre 1933. (Der Prozess wegen seiner Funktionen in der DDR (wobei er auch für die Schüsse an der innerdeutschen Grenze zur Verantwortung gezogen werden sollte), wurde aufgrund von Verhandlungsunfähigkeit schließlich eingestellt.) Für den Polizistenmord wurde er hingegen verurteilt, wobei der Autor selbst zu dieser Verurteilung beitrug, indem er die in Moskau liegenden Akten ausfindig machten, die unzweifelhaft die Schuld Mielkes bewiesen. Sechs Jahre Haft sind angesichts der Tatsache, dass dem Polizisten (ein Racheakt für Tage zuvor von anderen Polizisten getötete Demonstranten) von hinten in den Kopf geschossen wurde, ein recht mildes Urteil.
Die nächsten Arbeiten, die sich mit der Ärzteschaft in nationalsozialistischer Zeit auseinandersetzen, berühren nicht nur wegen der bekannten Indolenz gegenüber jedwedem menschlichen Gefühl im Umgang mit dem „lebensunwerten Leben“ (Alte, Geisteskranke etc.), sondern wegen der zahlreichen Karrieren, die von diesen Medizinern sowohl in der DDR als auch in der BRD gemacht wurden (er streift unter anderem auch die Biographie von Heinrich Gross, der im Dritten Reich für unzählige Tötungen und Experimente in der Klinik am Spiegelgrund verantwortlich war, in Österreich nach dem Krieg zu einem der bekanntesten Gerichtsgutachter wurde und der unbehelligt von der Justiz 2005 starb). Niemand der von Aly angeführten Ärzte scheint auch nur das geringste Unrechtsbewusstsein gehabt zu haben, Arbeiten aus der Zeit des Nationalsozialismus wurden bloß umgeschrieben, der rassistische Duktus entfernt, sogar Präparate von Ermordeten weiter verwendet. In späteren Kapiteln über mit den Nazis sympathisierenden Historikern weist Aly zurecht darauf hin, dass diese Verhaltensweisen weniger aus weltanschaulicher Überzeugung resultierten, sondern aus „karrieristischem Kalkül und instrumentalisierter Vernunft“. Man tat, was man zu tun imstande, was für das eigene Fortkommen förderlich war – und genau so verhielt man sich auch nach dem Kriege (mit jeweils unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung in Ost und West). Von Überzeugung konnte bei all diesen Menschen nicht die Rede sein, sie waren sich selbst verpflichtet und passten sich den jeweiligen, politischen Gegebenheiten an (sodass aus Nazis auch mal Sozialdemokraten, Liberale oder Kommunisten wurden).
Störend wirkt in diesem Buch, dass sich ein undifferenzierter, wissenschaftsfeindlicher Unterton durch die einzelnen Arbeiten zieht. Aly scheint sich die dümmliche (u. a. von der Frankfurter Schule vertretene) Ansicht zueigen gemacht zu haben, dass Wissenschaft per se zu Unmenschlichkeit führe ob ihres objektiv-instrumentalistischen Charakters. Das ist nun gerade in Bezug auf den Nationalsozialismus völliger Unsinn, der sehr viel mehr die Nähe zu esoterischen Strömungen suchte denn zu einer objektiven Forschung (was zum jüdischen Exodus zahlreicher Wissenschaftler führte). Die „deutsche“ Wissenschaft dieser Zeit war nichts weniger als wissenschaftlich (etwa die „deutsche Physik“), sie wurde zum Erfüllungsgehilfen der Ideologie degradiert und fühlte sich in dieser Funktion durchaus wohl. Das führt bei Aly schließlich so weit, dass selbst ein billiger Opportunist wie Kardinal Michael von Faulhaber zu einem Kämpfer für Humanität wird (der die nationalsozialistische Machtübernahme von der Kanzel herab explizit begrüßt hatte) wegen seines Protestes gegen die Aktion T4 (wobei es bei solchen christlichen Protesten weniger um Humanität, sondern um die Rechte eines Gottes geht, die dadurch eingeschränkt würden – was nicht daran hindert, sich mit der Todesstrafe zu arrangieren) zu einem Helden des Widerstandes zu stilisieren. Außerdem vermengt Aly dann auf undifferenzierte Weise Eugenik und den Paragraphen 218, vermischt die Tötung unwerten Lebens mit dem berechtigten Anliegen um einen freigewählten Tod. Schon die Kapitelüberschrift macht stutzig: „Wertfreie Wissenschaft“. Hier wird ganz offenkundig auf Max Webers Versuch einer Objektivierung der Wissenschaft angespielt (und zwar in ebenso unkundiger Weise wie später von Adorno und Habermas im zweiten Positivismusstreit), der nun rein gar nichts mit den pseudowissenschaftlichen Aktivitäten von Ärzten im Dritten Reich zu tun hat. Dieser Untergriff dient wohl einzig dazu, rational-wissenschaftliches Denken in einen vermeintlichen Zusammenhang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten zu bringen, eine Art billiges Wissenschafts-Bashing von Leuten, die häufig nicht allzu viel von ihr verstehen.
Dieser seltsame Unterton versieht ein ansonsten lesenswertes Buch mit einem Fragezeichen: Es ist unangenehm, eine an und für sich stringente historische Analyse mit beschränkten Vorurteilen vermischt zu sehen. Davon abgesehen aber eine für den an Zeitgeschichte Interessierten spannende Lektüre.
Götz Aly: Macht – Geist – Wahn. Kontinuitäten des deutschen Denkens. Berlin: Argon 1997.