Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag

Mozart war für Mörike der Künstler κατ’ ἐξοχήν. An ihm zeigt er die Seinsbedingung und ‚Funktionsweise‘ eines großen Künstlers auf. Dass er Mozart dafür auf der (tatsächlich stattgefundenen) Reise nach Prag porträtiert, ergibt durchaus Sinn. Er musste den Mann aus seiner täglichen Umgebung, aus seiner täglichen Routine, losgelöst zeigen können; nur so konnten die Reflexionen und Erinnerungen Mozarts, die die Art seines Schaffens beispielhaft aufzeigen, einigermaßen natürlich eingebettet werden. (Wobei ich das Wort ‚Reflexionen‘ in einem sehr, sehr weiten Sinn nehme; Mozart war keiner, der über sich und seine (oder gar die!) Kunst nachdachte, wie es zum Beispiel Schiller tat – weder wohl der ‚reale‘ Mozart, noch der in Mörikes Novelle.)

Wir treffen Mozart und seine Frau im Postwagen an der böhmischen Grenze. Es ist schönes Wetter und beim Durchqueren eines Waldes kommt es Mozart plötzlich an, dass er anhalten und den Wald genießen will. Dabei kommt ihm zum Bewusstsein, wie wenig er sich doch in der Natur aufhält, und er wünscht sich, das vermehrt tun zu können. Im Verlauf der Novelle erfahren wir allerdings, dass Mozart eine Zeitlang auf Anraten seines Arztes längere Spaziergänge mit dem Spazierstock seines Vaters unternommen hat. Seine Naturbegeisterung muss sehr rasch eingeschlafen sein: Schon nach drei Monaten (und drei verlorenen Spazierstöcken!) hört er mit den Spaziergängen auf. Was zeigt, dass nach Mörike auch ein genialer Künstler sich selber nicht immer versteht; ja, gerade der geniale Mensch das vielleicht nie tut. Mozarts Genie konnte nur in der Großstadt blühen. Deshalb ist auch der Tagtraum Constanzes, den sie im Folgenden in der Kutsche ausmalt, dass Friedrich der Große Mozart nach Berlin berufen würde, genau das: ein Traum. Berlin wuchs erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Großstadt an; zu Mozarts Zeiten war es eine deutsche Provinzstadt unter vielen, und der Komponist wäre, falls er wirklich einen Ruf nach Berlin erhalten hätte und ihm gefolgt wäre, wohl schlicht im märkischen Sand verdorrt. Selbst Frau Mozart konnte ihren Mann also nicht wirklich verstehen. Bedeutsam ist allerdings auch, dass im Gefolge dieses kurzen Naturerlebnisses ein erstes Mal Andeutungen fallen darüber, dass der Komponist seinen frühen Tod zu ahnen scheint.

Das Pärchen kommt in einer Poststation an und will dort essen. Frau Mozart beschließt, sich ein Stündchen hinzulegen, bis das Essen bereit ist. Er hingegen wandert in den nahe gelegenen Garten eines Schlosses. Er verliert sich in Gedanken und steht dann irgendwann vor einem Orangenbäumchen, das gerade Früchte trägt. Eine davon scheint ihn besonders zu reizen, und er pflückt sie. Gedankenverloren nimmt er ein Messer aus der Tasche und halbiert die Frucht. Dabei wird er von einem Diener des Grafen Schinzdorf, dem das Schloss gehört, ertappt. Allerdings bleibt Mozart nur kurze Zeit im Status des als verdächtiges Subjekt eingestuften Arrestanten; er wird von der Gräfin ins Schloss geladen. Im Verlauf der Gespräche erzählt Mozart dann, warum er eigentlich die Orange gepflückt hat: Die Früchte erinnerten ihn an ein Schauspiel, das er als 13-Jähriger in Neapel gesehen hatte, wo unter anderem auch Orangen umher geworfen wurden. Zum Schluss des Spiels sangen die jungen Darsteller ein Lied. Aus diesem über den Umweg der Orange erinnerten Lied formte sich in Mozart, noch vor dem Orangenbäumchen stehehnd, eine Arie, die ihm im Don Juan fehlte. Schon vor Prousts Madeleines finden wir also bei Mörike den Vorgang, wie ein – hier visueller – äußerer Reiz eine Erinnerung ‚triggert‘, die ihrerseits den künstlerischen Schaffensprozess in Gang setzt. Der Künstler ist diesem Vorgang wehrlos ausgesetzt: Einmal gestartet, kann die künstlerisch-produktive Maschine nicht mehr gestoppt werden. Der Künstler wird, wie man früher zu sagen pflegte, zum Gefäß seines Werks, und alles andere wird nebensächlich. Mörike wiederholt dies noch einmal, wenn er Mozart erzählen lässt, wie er – abends von einer Festivität nach Hause gekommen – nach den Notenblättern sucht, die er bereits zum Don Juan geschrieben hat, sie aber nicht findet, weil seine Frau sie bereits für die Reise vom nächsten Morgen verpackt hat. Dafür findet er auf dem Tisch ein Konvolut mit der Handschrift des Abbate, also da Pontes. Mozart öffnet es. Es sind die Änderungen und Zusätze, die er zu seiner Oper von seinem Librettisten gewünscht hatte. Einmal mehr ein Trigger: Da Ponte hat Mozarts Intention so gut getroffen, dass sich zum Text in dessen Kopf sofort die Musik einstellt. Eigentlich hatte der Komponist seiner Frau versprochen, früh zu Bett zu gehen, damit das Paar am folgenden Morgen früh abreisen könne. Doch die Musik muss aus Mozarts Kopf heraus. Vier Stunden lang schreibt er daran, da ein Einfall den nächsten nach sich zieht. (Mozart verwendet selber das Bild von der Schleuse, bei der, einmal geöffnet, kein Halten mehr ist für die dahinter angestauten Wassermassen.)

Neben dem eigentlichen Schaffensprozess ist Mörikes Thema auch die ‚dunkle Seite der Macht‘, die Seite des Genies, die depressiven Phasen ausgesetzt sein kann – exemplifiziert in Mozarts Ahnung eines frühen Todes. Verstärkt wird diese Ahnung noch dadurch, dass am Schluss die gräfliche Nichte die Notenblätter eines Volkslieds in die Hände bekommt, welche das grüne Tännlein und Rosensträucher (also die Natur) unter der Hand zur Bepflanzung eines Grabes macht, zwei schwarze Rösslein auf der Weide zu den Zugpferden des Leichenwagens mit deiner Leiche – und das vielleicht schon sehr, sehr bald. Bei diesem angeblichen böhmischen Volkslied handelt es sich in Tat und Wahrheit um Mörikes eigenes Gedicht Denk es, o Seele!. Dieses ist vier oder fünf Jahre vor der Novelle entstanden; Mörike reiht sich durch dessen Verwendung in seiner Künstlernovelle selber nahtlos ein in die Reihe der jener Großen vom Schlage eines Mozart. Etwas, das er – zumindest für diese Novelle – sehr wohl in Anspruch nehmen darf.

Mozart auf der Reise nach Prag ist Mörikes Psychogramm eines Künstlers. Mozart ist dabei nur eine Chiffre, und deshalb verzeihen wir ihm das vordergründig doch recht süßliche Bild des Komponisten, das er da zeichnet. (Allerdings durchaus in Stil und Geschmack der Zeit!) Denn wir haben eine sehr kunstvoll durchkomponierte Novelle vor uns, eine Novelle voller Querverweise. Mörikes Stil verleitet dazu, sie schnell durchzulesen. Dieser Verlockung sollte man widerstehen und den Text ganz, ganz langsam lesen.

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