Und wenn ich Tegmarks phantastischen Weltenwürfen auch einiges abgewinnen konnte, so ist mir eigentlich die Herangehensweise Stewarts näher: Er ist einer der wenigen, die sich nicht an einem „Wissen“ berauschen, das diese Bezeichnung nur unter Vorbehalt verdient. Tegmark verliert kein Wort über das Problematische einer Ad-hoc-Hypothese wie der Inflation (im Gegenteil, sie dient ihm als Grundlage für weitergehende Spekulationen), während Stewart den Finger in die Wunde legt: Es ist eine Hypothese, die aus der Not geboren wurde, die zwar einiges zu erklären vermag (das „flache“ Universum), andererseits aber zahlreiche neue Fragen aufwirft (das das Inflatonfeld konstituierende Teilchen (Inflaton) harrt noch seiner Entdeckung, das Problem der „ewigen Inflation“ ist ungelöst usf.) Das heißt nicht, dass Stewart das Konzept der Inflation (oder eine der zahlreichen Varianten) völlig ablehnt, sondern schlicht auf die Schwierigkeiten hinweist, die ansonsten häufig verschwiegen werden.
Ähnlich verfährt er auch mit anderen Annahmen, die derzeit im Schwange sind, insbesondere mit der dunklen Materie bzw. der dunklen Energie. Beide Hypothesen erklären zwar das seltsame Verhalten von Galaxien (sowohl was Drehbewegung als auch Fluchtgeschwindigkeit betrifft), sie wurden aber auch zu genau diesem Zweck entworfen. Die Tatsache, dass 95 % der im Universum enthaltenen Materie uns bislang noch völlig unbekannt sind, sollte zu denken geben – vor allem, weil wir nirgendwo ein Fitzelchen davon zu entdecken imstande waren. Diese grundsätzliche Skepsis stellt zwar kein Argument für oder gegen deren Existenz dar, ist aber einigermaßen wohltuend in einer Fach- und Sachbuchwelt, die zu einem nicht unerheblichen Teil so tut, als ob eine Bestätigung bloß reine Formsache sei. Und ebenso skeptisch ist der Autor gegenüber den verschiedenen Varianten von mehr-weniger unendlichen Parallelwelten, deren Konzeption zum Teil Bestätigung bzw. Widerlegung ausschließt. (So nebenbei – auch der Urknall wird in seiner Darstellung nicht verschont und Stewart betont, wie häufig und fundamtental sich gerade in den letzten 150 Jahren die Szenarien geändert hätten: Er vermutet, dass in 20 oder 30 Jahren sich unsere Vorstellung von der Entstehung des Universums grundlegend von den derzeit anerkannten unterscheiden würde. Vielleicht werde ich es noch erleben.)
Das nach meinem Dafürhalten beste Kapitel des Buches ist jenes über außerirdische Intelligenz. Dabei wendet er sich gegen die derzeit einflussreicher werdende Annahme, dass wir möglicherweise die einzigen (intelligenten) Lebewesen im Universum wären. Und er spricht mir aus der Seele, wenn er solche Ansichten mit der jahrhundertelangen Sehnsucht der Menschen, im Mittelpunkt stehen zu wollen, vergleicht. Es gibt einige grundsätzliche Einwände: Nichts rechtfertigt die Annahme einer Sonderstellung unseres Planeten (Stewart schätzt die Zahl der Exoplaneten der Milchstraße, die sich in der habitablen Zone befinden, auf rund 500 Millionen, was angesichts von 100 bis 200 Milliarden Galaxien eine beachtliche Zahl ergibt); die Naturwissenschaft hat zahlreiche, allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten festgestellt und weiß nichts von Unikaten – selbst Absonderlichkeiten (wie Singularitäten) scheinen – so sie denn existieren – häufig vorzukommen und jede auch nur ansatzweise anthropozentrische Annahme hat sich bisher als falsch herausgestellt; unsere Vorstellungen von kohlenstoffbasiertem Leben auf Planeten in der „Goldlöckchen-Zone“ sind möglicherweise ebenfalls einer subjektiven Sicht geschuldet (dass sich auf der Erde in kalten, heißen, anaeroben Bereichen Leben gebildet und erhalten hat, sollte diesbezüglich zum Nachdenken anregen), wobei sich Intelligenz womöglich auch in ganz anderen Materiezusammenstellungen manifestieren könnte – etwa Schwarmintelligenz – bzw. in einer Form, die uns – noch – undenkbar erscheint). Jedenfalls scheint es ein Rest der anthropozentrischen Selbstgefälligkeit zu sein, das Universum ganz für uns beanspruchen zu wollen.
Ich habe das Buch über weite Stellen genossen, insbesondere die erwähnte Skepsis, die man vielerorts vermisst. Der Versuch, die Mathematik des Universums darzustellen, ist allerdings nur beschränkt gelungen (und wohl in einem Sachbuch nicht zu verwirklichen). So schreibt er etwa über die Gravitationsarmbildungen in Galaxien (die auf ein reduziertes Drei(Zweieinhalb)-Körper-Problem zurückgeführt werden können: „Drei der Lagrangepunkte L3, L4 und L5 sind stabil. Die anderen beiden, L1 und L2, sind instabile Sattelpunkte und liegen nahe am Ende des Balkens, der als Ellipse gezeichnet ist. Nun benötigen wir keinen kurzen Einblick in die nichtlineare Dynamik. Mit den Gleichgewichtszuständen vom Satteltyp sind zwei spezielle mulitdimensionale Potenzialflächen verknüpft, die als stabile und instabile Mannigfaltigkeit bezeichnet werden. […]“ Das ist schon einigermaßen starker Tobak, obgleich ich zugeben muss, dass seine Erklärung der Lagrange-Punkte im Text zuvor durchaus gelungen war. Dennoch muss so ein Versuch misslingen: Er sagt entweder zuwenig (weil noch sehr viel mehr mathematische Grundlagen erörtert werden müssten, was das Ganze zu einem Mathematik-Lehrbuch machen würde) oder zuviel: Weil diese Erklärungen fehlen, bleibt der Versuch, den Gedankengang nachzuvollziehen, erfolglos. Trotzdem ein wirklich lesenswertes Buch, eine Alternative zu den von der Begeisterung der Autoren getragenen Büchern a la Tegmark.
Ian Stewart: Die Berechnung des Kosmos. Wie die Mathematik das Universum entschlüsselt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2018.