Herders wichtigster Beitrag zu jener geistesgeschichtlichen Bewegung, die wir heute als ‚Deutsche‘ bzw. ‚Weimarer Klassik‘ kennen, war sein geschichtsphilosophisches Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit*). Doch bereits früher, 1774 erschien ein anderer geschichtsphilosophischer Text von ihm: der hier zur Vorstellung bereit liegende Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Das Buch erschien anonym, unter anderem wohl deshalb, weil er darin auch dem so genannten ‚Aufgeklärten Absolutismus“ von Friedrich dem Großen oder seinem damaligen Brötchengeber, dem Bückeburger Hof mit Friedrich Wilhelm Ernst Graf zu Schaumburg-Lippe an der Spitze, an den Karren fuhr.
In seinen späteren Ideen sollte Herder einige Positionen seiner frühen Geschichtsphilosophie implizit widerrufen. 1774 aber geht es ihm darum, einige der der rationalistischen bzw. aufklärerischen Geschichtsschreibung inhärenten Voraussetzungen an den Pranger zu stellen. Sein Hauptmerkmal gilt dabei vor allem Voltaire und überhaupt den Franzosen des 18. Jahrhunderts, aber auch David Hume und selbst Leibniz kommen nicht ungeschoren davon.
Voltaire nämlich, und mit ihm (nicht nur, aber vor allem) die französischen Denker des Rationalismus und der Aufklärung, gingen von einer geradlinigen Entwicklung der Menschheit aus, die ihrer Meinung nach immer mehr aus der Dunkelheit ins Licht führen sollte. Herder aber wendet sich gegen deren Verachtung des Mittelalters oder des Judentums. Auch die alten Ägypter betrachtet Herder bedeutend wohlwollender als dies zum Beispiel der von ihm ansonsten so verehrte Winckelmann tat. Das Mittelalter ist für ihn auch die Epoche eines Einflusses der Germanen, die er (wie Tacitus) als ungestüme Naturkinder in einem Gegensatz sieht zu den verweichlichten Römern. Beim Mittelalter sieht er allerdings auch bereits eine Wendung zum Schlechteren, nämlich als die arabische Philosophie bzw. deren Rezeption in Europa, den bisherigen philosophischen Leitstern Sokrates (wie er uns von Xenophon und vor allem von Herders Liebling, Platon, überliefert ist) ablöst durch durch die Vernünftelei des Aristoteles (den er damit implizit zum Vorläufer der französischen Aufklärung macht, ebenso wie die – nicht namentlich genannte – Scholastik).
Nicht, dass sich Herder prinzipiell gegen alles Französische wenden würde. Da ist Montesquieu, der sich vor allem im ersten Teil bemerkbar macht, wo Herder (ganz wie der französische Staatsphilosoph) die Völker behandelt als wären sie Individuen und ihnen so Entwicklung zuschreiben kann. Rousseau zum Beispiel wird er, wie es oft beim Sturm und Drang der Fall war, eher positiv einschätzen. Von Leibniz wiederum übernimmt Herder den Gedanken, dass eine göttliche Vorsehung den Weg der Geschichte leitet – was die Franzosen aufs Heftigste verneint hatten. Die englischen Empiristen (Shaftesbury!) sind Herder ebenfalls sehr sympathisch. (Denn ja: In diesem Text geht vieles, wie immer bei den Schriften des Sturm und Drang, über das Gefühl des Autors.)
Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass die Rehabilitierung des Mittelalters zwar in der Geschichtswissenschaft erfolgt ist, beim breiten Publikum (zum Beispiel in so genannt ,massentauglichen’ Filmen) aber nach wie vor das Bild einer finsteren Epoche herrscht, das uns vor Jahrhunderten Renaissance und Aufklärung gezeichnet hatten, weil sie einen Gegner brauchten, um sich mit ihren eigenen Ansichten zu profilieren – so, wie im vorliegenden Text nun Herder die französischen Aufklärer als Gegner brauchte, um die eigene Meinung pointiert hinstellen zu können. (Während aus heutiger Sicht gerade der deutsche Sturm und Drang in mancherlei wie eine Aufklärung der Aufklärung wirkt, eine Erinnerung der Väter durch die Söhne daran, dass es im menschlichen Wesen mehr gibt als nur die Vernunft.)
Stilistisch und auch weil Herder sich oft mit Anspielungen begnügt, keine einfache Lektüre. Aber im Grunde genommen eine obligatorische Lektüre, wenn es darum geht, das Gemengelage zu verstehen, das gerade im deutschen Sprachraum zwischen Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik und – ja auch – der Romantik herrschte.
*) Erschienen zwischen 1784 und 1791 in vier Bänden; hier bereits besprochen, nämlich hier Band 1, hier Band 2, hier Band 3 und hier der vierte und letzte Band.