Albrecht von Haller: Die Alpen und andere Gedichte

Das ist = RUB 8963; Auswahl und Nachwort von Adalbert Eschenbroich, erstmals erschienen 1965, vor mir liegt eine Ausgabe von1978, die mich in etwa seit eben diesem Jahr begleitet hat. So ein kleines und schmales Büchlein – es zählt, inklusive Nachwort und Anmerkungen gerade mal 120 Seiten – wirft man rasch noch einmal zuoberst oder zuunterst in eine Umzugskiste.

Über Albrecht von Haller ist schon viel geschrieben worden; um so schwieriger ist es, noch etwas Nennenswertes nachzureichen. Er war vielleicht der Universalgelehrte der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Arzt, Botaniker und – heute wohl das, wofür er noch am ehesten bekannt ist – Schriftsteller, der einiges an Lyrik, in der frühen Zeit jede Menge Literaturkritiken und im Alter auch politische Romane verfasst hatte. Eine Zeitlang hatte er an der Universität Göttingen den Lehrstuhl für Anatomie, Chirurgie und Botanik inne; ihm und seinem ganz Europa umspannenden Ruhm als Naturwissenschaftler hatte es die Göttinger Universität zu verdanken, dass sie ihrerseits Weltruhm erlangte.

Gedichtet hat Haller eigentlich immer nur in seinen Mußestunden – vor allem in Zeiten der Rekonvaleszenz nach einer Krankheit – er betrachtete sich selber in erster Linie als Arzt und Naturwissenschaftler. Aber der Lyriker spielt in der vorliegenden kleinen Auswahl – wie es schon ihr Titel andeutet – die Hauptrolle. Dabei gehört Haller, damals beim Erscheinen des kleinen Reclam-Büchleins wie heute, seit langem zu den Autoren, die man selbst als LiteraturwissenschaftlerIn allenfalls vom Hören-Sagen kennt. Dass er der Lieblingsautor Kants war, wenn es um Literatur und nicht um Philosophie ging, sollte eigentlich zu einer näheren Beschäftigung mit ihm anregen – wenn da nicht vier große „Aber“ daständen: 1. Lessing hat einen Abschnitt aus seinem Gedicht Die Alpen in seinem Laokoon kritisiert, indem er ihn als Beispiel brauchte, dass Landschaftsmalerei eben gerade nicht Sache der Literatur ist, dass für einen Dichter dabei ein Scheitern vorprogrammiert ist. 2. Schiller warf ihm im Aufsatz Über naive und sentimentale Dichtung vor, mit seiner didaktischen Poesie weder im Bereich der Anschauung zu verbleiben, noch ins Reich der Idee aufsteigen zu vermögen. (Haller war Schillers großer Vorläufer in Feld der Gedankenlyrik; mit seinem Vorwurf traf Schiller auch sich selber – was er ganz sicher wusste.) 3. Herder schließlich nimmt Hallers Satz, dass der Mensch ein Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh! sei, zum Anlass, diesen Makel als positive Eigenschaft des Homo sapiens zu interpretieren und damit Haller zu verwerfen. 4. Auch Goethe hat einen anderen berühmten Satz Hallers, nach dem die Natur dem Menschen bestenfalls ihr Äußeres zeigt, in späteren Jahren kategorisch zurückgewiesen. Summa summarum: Lessing, Schiller, Herder, Goethe wenden sich gegen Haller. Vor so viel – wenn auch jedes Mal punktueller – Kritik der deutschen Klassiker musste der Schweizer Frühaufklärer Haller zurückweichen und die Gunst des Publikums, über die er ursprünglich durchaus verfügte, schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlieren.

Dabei liegt vieles dieser ‘klassischen’ Kritik darin begründet, dass unterdessen die Aufklärung durch Leibniz’ Schule gelaufen war, deren prästabilierte Harmonie ein ganz anderes Lebens- und Denkgefühl vermittelte, als das barocke, in dem der Schweizer noch wenigstens zum Teil aufgewachsen war. Haller nämlich steht noch am Beginn der Aufklärung; er lebte noch in der guten, alten, calvinistisch-reformierten Tradition, die in Bern (seinem Geburtsort) zu Beginn des 18. Jahrhunderts tonangebend war, und die Angst vor einem Jenseits in der Hölle war für ihn existenziell und reell, weil die Hölle noch reell war. Eschenbroich, der Herausgeber meiner Ausgabe, positioniert ihn deswegen in der Mitte zwischen Barock (der dieses calvinistische Lebensgefühl noch kannte) und Aufklärung (die eine Entwicklung der Menschheit zum immer Besseren annahm). Tatsächlich fällt bei der Lektüre der Satiren Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben bzw. Die Falschheit menschlicher Tugenden von 1729 bzw. 1730 auf, wie grob Haller gegen diese Sünden vorgeht. Eine fein geschliffene und boshafte Satire, wie wir sie von Swift kennen (den Haller quasi als Paten seiner eigenen satirischen Gedichte anruft), sind beide nicht. Es gleicht schon eher dem Aufschrei einer gequälten Seele, die im Angesicht eines Jüngsten Gerichts so gern den Ansprüchen genügen würde und sie doch für dem Menschen gegenüber unfair, weil nicht einhaltbar, befindet. Viele sind – wahrscheinlich gerade deswegen – Fragment geblieben, weil Haller den ‘positiven’ Teil, den Teil des errungenen Heils, nicht schreiben konnte. Haller muss auch immer wieder feststellen, dass die Naturforschung als Ersatz einer metaphysischen Sicherheit nicht das gewünschte Resultat bringt: Du hast nach reifer Müh und nach durchwachten Jahren // erst selbst, wie viel uns fehlt, wie du nichts weißt, erfahren!

Das ist aus der unbeteiligten Sicht eines heutigen Lesers zwar faszinierend, wirklich lesbar sind aus heutiger Sicht von den sechs Gedichten der Auswahl dennoch wohl nur das erste und das letzte. Das letzte: Die Trauer-Ode, beim Absterben seiner geliebten Ariane, verfasst nach dem Tod seiner ersten Frau in Göttingen, wo unterschwellig neben der Trauer auch der Vorwurf durchscheint, den Haller sich macht, die zarte junge Frau aus ihrer Berner Heimat in die Göttinger Fremde geschleppt zu haben. Das erste schließlich, das der Sammlung den Titel gebende Die Alpen. Lessings Kritik zum Trotz, finden sich hier einige schöne Naturschilderungen. Natürlich vereinfacht Haller bei der Schilderung des Lebens der Bauern in den Alpentälern. Das Landleben war nie so idyllisch, wie er es darstellte, auch nicht in den Alpen Berns und des Wallis, die er uns vorstellt. Was ihn aber aus der Masse der Heimatdichter heraushebt, ist trotz allem sein Realismus – zumindest in der Botanik. Er geht darin so weit dass er die von ihm beschriebenen Blumen zum Beispiel auch gleich botanisch genau bestimmte und dies in Fußnoten anmerkte. Was er nicht ahnen konnte: Mit seinem Gedicht stellte er sich an den Anfang jener Bewegung, die – über Schillers Wilhelm Tell, der zum Teil dieselben Quellen benutzte – im Schweizer Patriotismus des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts mündete. Wobei Haller dann vergessen ging.

Fazit: Mit Ausnahme der Alpen wenig, das anders denn literaturhistorisch zu interessieren vermöchte. Obwohl Haller selber eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein muss.

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