Stanisław Lem: Transfer

Zehn Jahre hat Hal Bregg an Bord der Prometheus verbracht, als Chefpilot dieses Raumschiffs, das den 25 Lichtjahre entfernten Stern Fomalhaut näher untersuchte. Nun ist die Expedition nach zahlreichen Verlusten auf die Erde zurück gekehrt. Die 10 Bordjahre Breggs aber entsprechen auf Grund der Zeitdilatation 123 Jahren auf der Erde. In dieser Zeit hat sich das Leben in der Heimat grundlegend geändert.

Lem erzählt diesen Roman in der Ich-Form, also aus der Sicht und mit dem Wissen Breggs. Dieser entzieht sich den Adaptionsmaßnahmen, die eine speziell für die Rückkehrer eingerichtete Behörde vorgesehen hat und macht sich auf, auf eigene Faust die Erde neu zu entdecken. Zunächst haben wir als Leser einfach den Eindruck, in einer neuen, klicki-bunten Welt zu sein; einer im Vergleich zur Welt, die Bregg noch gekannt hat, völlig umgekrempelten Welt, mit anderer Mode, anderer Architektur, anderen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln. Doch schon bald spürt Bregg, dass hier tatsächlich etwas grundlegend anders ist. Nicht nur, dass er mit seinen zwei Metern Körpergröße und den (auf Grund einer Beschleunigung, die ständig 2 g betrug) selbst für seine, die alte Zeit, überdurchschnittlichen Muskelpaketen, aus der Menge der Leute im wahrsten Sinne des Wortes herausragt – er kommt auch nach und nach zum Bewusstsein, dass die Menschen dieser Welt in vielen Situationen anders reagieren, als er es aus seiner Zeit kennt und erwartet.

Als ihn eine Frau, eine Fremde, mit zu sich nach Hause nimmt, und die Konversation auf den Punkt kommt, wo er fragt, ob sie denn keine Angst habe, einen Fremden einfach so einzuladen, erfährt er nach vielen Missverständnissen das ‚Geheimnis‘ dieser Welt: Wenige Jahre nach seinem Abflug machten Wissenschaftler eine Entdeckung, die es ermöglichte, den menschlichen Aggressionstrieb unmittelbar nach der Geburt praktisch zu annihilieren – ohne dass dieser Mensch irgendwie verängstigt zurück bliebe oder sonst psychische Mängel aufwiese. Das Resultat dieser so genannten Betrisierung ist verblüffend: Der neue Mensch will nicht mehr töten, weil es ihm gar nicht mehr in den Sinn kommt – und falls es ihm doch in den Sinn käme, fühlte er eine derartige Abscheu, dass er es nicht über sich brächte, auch nur ein Tier zu töten, das über eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Menschen verfügt. Gewalt in jeder Form ist ihm fremd, ja zuwider. Vor allem Männer scheinen diese Effekte der Betrisierung aufzuweisen. Deswegen kommt auch der neue Mann gar nicht auf die Idee, eine Frau irgendwie gewaltsam nötigen zu wollen. Der Sexualtrieb existiert nach wie vor, aber er wird ohne Gewalt ausgelebt.

Praktischerweise wird kurze Zeit später eine weitere Entdeckung gemacht, die es ermöglicht, die Gravitation (und wohl auch die Trägheit) bei Bedarf sofort zu eliminieren. Damit sind praktisch keine Unfälle mehr möglich, weil Fahrzeuge nicht nur sofort bremsen, sondern weil diese Erfindung auch Verletzungen auf Grund der Wirkung von Gravitation oder Trägheit verhindert, indem es diese Verletzungsquellen unverzüglich annihiliert. Kleine Kästchen, die in Automobile eingebaut werden, die man trägt, wenn man mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug springt, etc., etc. – nicht nur sind die Menschen nicht mehr in der Lage, andere Menschen und auch Tiere zu töten: Sie sind auch nicht mehr in der Lage, ihr eigenes Leben zu riskieren. Gefährliche Jobs, und überhaupt jede Form von Arbeit, wird von Robotern erledigt. Selbst medizinische Operationen werden von den menschlichen Ärzten nur noch geplant; ausgeführt werden sie von Robotern. Den Menschen bleiben nur noch Schreibtischjobs und Hobbys. Aber die Arbeit ist offenbar jeder Entfremdung im marxistischen Sinne bar. (Es ist nicht ganz klar, ob die Leute nur zum Spaß arbeiten, oder ob sie das für ihren Lebensunterhalt tun müssen. Essen, trinken und auch wohnen werden jedenfalls von einer nicht näher definierten übergeordneten Instanz kostenlos zur Verfügung gestellt.)

Bei der Betrisierung und deren Effekten nun spalten sich die interpretierenden Geister: Haben wir einen utopischen Roman vor uns, in dem Sinne, dass Bregg als eine Art Schläfer in einer schönen, neuen Welt erwacht, wo alle Arbeit überflüssig geworden ist, alle Gewalt (aller Krieg, aber auch die im Roman hauptsächlich thematisierte Gewalt von Männern gegenüber Frauen) verschwunden? Oder ist es doch eine Dystopie, weil mit der Aggression, mit der Bereitschaft, fremdes und eigenes Leben für ein Ziel aufs Spiel zu setzen, auch die Innovation verloren gegangen ist? Denn – so jedenfalls meint Olaf, Hals Pilotenkollege (der einzige von deren fünf, der neben Breggs überlebt hat) – eine Menschheit, die sich ihrer Aggressionen entledigt hat, hat sich auch des größten Teils ihrer Emotionalität entledigt. Es gibt in dieser neuen Welt keine Abenteuer mehr, weil es keinen Wunsch nach Abenteuern mehr gibt. Die Rückkehr der Expedition zu den Sternen wurde gerade mal mit zwei Sätzen in den Nachrichten bedacht – und das war kein Akt der Zensur, sonder einfach komplettes Desinteresse der Menschheit am Exploit der Crew.

Während alle anderen Überlebenden der Expedition zu den Sternen am Ende des Romans eine neue Expedition planen, um der Erde zu entkommen und den Abenteuergeist aufrecht zu erhalten, entschließt sich Hal Bregg, die Frau, die er liebt und die selbstverständlich dieser neuen Welt stammt, zu heiraten und sich mit den betrisierten Gegebenheiten auf der Erde zu arrangieren. Wer hat Recht: Hal oder Olaf? Ist diese andere Welt in Transfer Utopie oder Dystopie? Die meisten Interpreten scheinen Olaf Recht zu geben und den Roman in der Nähe von Schöne neue Welt anzusiedeln.*) Aber ich vermute, dass das vor allem daran liegt, dass diese neue Welt einen ausgeprägten ‚weiblichen Touch‘ aufweist, und der durchschnittliche Interpret eben ein Mann ist, der sich nicht damit abfinden will, dass sein von Jahrhunderte altem Machismo geprägtes Weltbild angetastet wird. Lem selber kritisierte später (wann? – seine Homepage schweigt sich leider über das genaue Datum aus) an seinem Roman vor allem, dass er das Problem der Betrisierung zu stark vereinfacht hat. Will sagen: Am Knochen dieses Themas wäre mehr Fleisch dran gewesen, als uns Lem abnagen ließ.

Worin ich ihm Recht gebe. 1961, also im gleichen Jahr wie sein heute berühmtester Roman, Solaris, erschienen, zeichnet sich Transfer dadurch aus, dass keine Lebewesen von fremden Planeten erscheinen, mit denen jeder Versuch einer Kommunikation oder gar Interaktion von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Und dennoch existiert auch in Transfer eine Kommunikationsbarriere, allerdings anderer Art, zwischenmenschlich – prima facie zwischen den Menschen der schönen neuen Welt und den vor mehr als 150 Jahren geborenen Teilnehmern der Expedition zum Stern Fomalhaut. Aber auch – denn die Geschichte hat einen doppelten Boden – zwischen Frauen (die neue Welt ist tendenziell weiblich gezeichnet) und Männern (alle Expeditionsteilnehmer waren männlichen Geschlechts). Und da muss ich Lems Selbstkritik Recht geben: Diese ‚weibliche‘ Welt ist tatsächlich zu oberflächlich ausgeführt; die Frauen im Roman gewinnen kein Profil und ihre Welt somit auch nicht. Das liegt nicht nur daran, dass mit Bregg ein Egoist alter Schule als Erzähler fungiert, der sich nur und einzig für seine eigenen Probleme interessieren kann und wohl schon die Frauen seiner eigenen Zeit nicht richtig verstanden hat. (Diese seine eigenen Probleme sind, zugegeben, tatsächlich nicht gering. Neben dem Kulturschock des Eintretens in die neue, ‚weibliche‘ Welt, hat Bregg den Tod so manches seiner Kameraden zu verarbeiten – inklusive je nach Fall mehr oder minder grosse Schuldgefühle daran. Alleine dieses Thema hätte wohl für einen ganzen Roman gereicht. Eine Entzerrung der Themen hätte Transfer vielleicht ganz gut getan.) Dass ein Macho über eine ‚weibliche‘ Welt berichtet, könnte sogar als Erzähltrick durchgehen. Aber dahinter steckt die simple Tatsache, dass Lem selber nicht aus seiner männlichen Haut konnte und sich hinter der ganzen neuen Welt ein Frauenbild verbirgt, das auch nicht viel anderes als die Frau in der Rolle des Heimchens am Herd zu akzeptieren vermag.

Fazit: Es steckt in diesem wenig bekannten Roman Lems mehr, als die meisten Rezensionen wahr haben wollen. Mehr wohl auch, als Lem selber wahrnehmen konnte. Gerade in Zeiten, in denen #metoo immer noch eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern spielt, könnte diese (zugegeben: arg männliche) Sicht auf das Problem der latenten Gewalt von Männern an Frauen interessieren. Auch wenn zu sagen ist, dass die Darstellung der Weiblichkeit, der andern, neuen Welt, sehr in den Klischees der 1950er stecken geblieben ist – in den männlichen Klischees, selbstredend: Wir haben hier einen frühen Versuch eines Mannes, seine eigene männliche Rolle zu hinterfragen.


*) Nur als Beispiele seien die beiden Ausschnitte aus Besprechungen angeführt, die auf Lems Webseite angeführt werden:

Wie in seinen anderen Romanen nutzt Stanislaw Lern [Original-Tippfehler der Webseite!], inzwischen schon ein Klassiker der Science-fiction-Literatur, die Zukunftsvision auch hier wieder, um dem Leser beklemmende Fragen über die Gegenwart zu stellen.

Hier ist es das schöne Wort beklemmend, das die Angst des Macho vor der schönen neuen Welt verrät.

Ein zweites Beispiel, von derselben Seite:

Die unerwarteten und oft sehr amüsant dargestellten Anpassungsschwierigkeiten des ›Neandertalers‹ aus dem Weltraum machen die Probleme dieser so ideal scheinenden Welt fast alptraumhaft bewußt.

Alptraumhaft! Leider steht auf der Seite nicht, wann die beiden Rezensionen (die erste aus der Berliner Morgenpost, die zweite aus den Ruhr Nachrichten) erschienen sind und wer sie jeweils verfasst hat. Die Formulierung inzwischen schon ein Klassiker deutet meines Erachtens darauf hin, dass zumindest die erste Rezension schon bald nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Maria Kurecka im Jahre 1974 erschienen ist.

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