+ + + Abgebrochen: Wilkie Collins’ “The Woman in White” + + +

Tja, so kann’s gehen. Eigentlich wollte ich The Woman in White wieder lesen, weil ich recht gute Erinnerungen an diesen Roman hatte, den man als einen der ersten Kriminalromane der Weltliteratur betrachten kann. War’s nicht der richtige Moment, bin ich heute kritischer, als vor ein paar Jahren bei der letzten Lektüre? Mag beides sein; jedenfalls habe ich das Buch nach rund 100 Seiten zunächst beiseite gelegt, nach 20 weiteren dann ‚offiziell‘ abgebrochen.

Dabei war der Anfang nicht übel, er hat mich sogar sofort in Bann gezogen. Der Ich-Erzähler, Walter Hartright, seines Zeichens Zeichenlehrer in London, erzählt von einem italienischen Freund namens Pesca, der ihm in verschiedenen kleinen Abenteuern ans Herz gewachsen ist, und dem er sogar einmal das Leben rettete. Pescas Aussehen, sein Charakter und seine kleinen Marotten, seine völlig unterschiedliche Wirkung auf Hartrights Mutter und Schwester, werden mit einer Liebe und Präzision beschrieben, die einem später nie mehr aufscheinenden Nebencharakter schon fast zu viel Ehre antun. Pesca jedenfalls kann sich endlich für sein gerettetes Leben revanchieren und dem des Lebens in London müden Hartright eine Stelle als Zeichenlehrer zweier junger Damen auf dem Land vermitteln. Bevor er nach Nordengland, nach Cumberland, abreist, um seine Stelle anzutreten, trifft er in London noch auf eine rätselhafte, ganz in Weiß gekleidete Frau, die, wie er kurz darauf vernimmt, offenbar aus einem Heim für Geistesgestörte geflüchtet ist.

An seinem neuen Arbeitsort angekommen, erweist es sich, dass die eine der jungen Frauen recht hübsch ist, die andere dagegen, ihre Halbschwester Marian Halcombe, ist, wie Hartright in seinem Bericht sagt, hässlich.

Kurze Zeit nach dem ersten Zusammentreffen von Hartright und Marian Halcome war es dann, wo ich meine Lektüre abbrach. Zu vorhersagbar glitt der Plot nun in die Kreise dessen, was als Gothic Novel von Ann Radcliffes unseligem Angedenken überliefert ist: Dem anderen nicht gestandene Liebe, die dennoch beiden (und der ganzen übrigen Umwelt) so offenbar ist, dass sie nur darunter leiden können; zur Unzeit erfolgende Abreisen und Krankheiten; Passivität praktisch aller Hauptfiguren (außer der Bösewichte natürlich!) usw. usw.

Dabei hätte Collins ein paar äußerst interessante Charaktere an der Hand gehabt. Neben dem zum Statisten-Dasein verurteilten Pesca sind es vor allem zwei, die jedem großen Romancier (auch Collins‘ Freund Dickens) Ehre angetan hätten. Nein, nicht die beiden Liebenden des Romans, Walter Hartright und seine Miss Fairlie – die sind farblos und (vor allem die junge Lady) über weite Strecken hinaus allzu passiv leidend gezeichnet. Aber da ist Marian Halcombe, die Halbschwester: etwas älter als Miss Fairlie, resolut und zupackend – im Grunde genommen bereits eine Frau des 20. Jahrhunderts, und dass der Stock-Viktorianer Hartright sie nicht zu sehen vermag, enttäuscht, aber überrascht nicht. Dafür ist da ein anderer, der von Marian Halcombe fasziniert ist – ebenso fasziniert wie sie von ihm Es handelt sich um noch einen Italiener – den Conte Fosco. Alt und dick trägt er an seinem Körper eine halbe Menagerie an weißen Mäusen und anderen Tieren herum. Aber die beiden, Marian und der Conte, sind derart von einander angezogen, dass es für viktorianische Verhältnisse geradezu unanständig wird, wo vor allem den Frauen überhaupt keine Sexualität zugebilligt wurde. Wusste Collins, was er da geschaffen hatte? Ich bezweifle es, denn dann hätte er etwas anderes schreiben müssen. Selbst Arno Schmidt, der 1953 die Frau in Weiß übersetzt und der zwei Texte über den Roman verfasst hatte, selbst Arno Schmidt konnte nur die seltsame Gestalt des Conte, und auch die nur teilweise, erfassen. Marian ging an Arno ebenso vorbei wie an Walter.

Schade um die paar guten Charaktere und Szenen, die sich in diesen viel zu langen und viel zu prüden Roman verirrt haben. Vielleicht habe ich irgendwann noch Zeit und Muße, ihn zu Ende zu lesen …

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