Schon nach wenigen Seiten Lektüre – ich erinnere mich gut – habe ich stirnrunzelnd Band I der Jahrestage von Uwe Johnson zugeklappt. Die Konstruktion von Johnsons Roman erinnerte mich an etwas. Ziemlich bald ging das klassische Lämpchen Daniel Düsentriebs über meinem Kopf an: Das ist praktisch derselbe Aufbau wie der, den John Dos Passos in seiner U.S.A.-Trilogie verwendet hat. Ich blätterte damals nur rasch in meinem Dos Passos nach und sah meine Annahme bestätigt. Jetzt aber wollte ich es genauer wissen und habe die Trilogie endgültig aus dem Regal gezogen. Die Ähnlichkeiten sind wirklich frappant und ich frage mich, ob das wirklich niemand bisher bemerkt hat. Natürlich kenne ich nicht alle Sekundärliteratur, aber im Internet wäre so etwas doch sicher längst durchgesickert.
Im Detail hat Johnson natürlich das eine oder andere geändert. Aber die grobe Struktur ist praktisch die gleiche:
In einzelnen Kapiteln werden chronologisch die Erlebnisse in der Gegenwart der Protagonisten erzählt, untermischt mit Ausschnitten aus aktuellen Zeitungen und Rückblicken in die Vergangenheit. Johnson nahm als Erzähleinheit (Kapitel) jeden einzelnen Tag eines ganzen Jahres im Leben der Gesine Cresspahl, was er offenbar in der Mitte der Tetralogie bereute – jedenfalls verwendete er von da an zwar immer noch die einzelnen Tage als Erzähleinheit, aber die Erlebnisse der beiden Protagonistinnen Gesine und Marie wurden nur noch selten tageweise erzählt. Die Idee, die chronologische Abfolge durch kalendarische Einheiten zu signalisieren, hat Johnson wohl dem Ulysses von Joyce entnommen, denn bei Dos Passos fehlt das.
Beim US-Amerikaner wird zwar auch chronologisch erzählt. Aber da es nicht die Geschichte zweier Menschlein ist, die er erzählen will, sondern die eines ganzen Landes (der titelgebenden USA), ist die Chronologie bei ihm eher verwischt als akzentuiert. Wir können nur an Hand von Indizien erraten, in welchem Moment der Weltgeschichte wir uns gerade befinden. In The 42nd Parallel zeigen uns Zeitungs-Zitate und Bemerkungen der Handelnden, dass wir uns zu Beginn des Romans in der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und am Schluss ungefähr beim Eintritt der USA in denselben befinden.
Wo Johnson sich praktisch auf zwei Menschen beschränkt (und auch da noch Gesine weit wichtiger nimmt als Marie), kennt Dos Passos nicht weniger als zwölf Protagonist:innen. Nicht alle nehmen gleich viel Raum in der Erzählung ein. In The 42nd Parallel ist es vor allem ein Mann namens Mac, eigentlich Fainy McCreary, der besonders genau beobachtet wird. Er ist Schriftsetzer, Buchhändler und Journalist. Wir erleben ihn, wie er als ganz junger Mann das Elternhaus verlässt und mit einer Art wanderndem Buchhändler durch die Staaten zieht. Dabei verkaufen sie auch schon mal Auszüge mit den ganz gesalzenen Geschichten des Decamerone an pubertierende Provinz-Jünglinge – zu welchem Behuf ist wohl klar. Sein Arbeitgeber (der ihm wohl Arbeit gibt, aber kein Geld dafür) ist sich auch nicht zu schade, mit Farmersfrauen zu flirten (und mehr), um etwas zu verkaufen. Als dann einmal ein Gatte zu früh nach Hause kommt, ist das das Ende der Beziehung zwischen dem Buchhändler und Mac, denn sie verlieren sich bei der Flucht vor dem schießwütigen Gatten aus den Augen. Mac wird auf seinen weiteren Wanderungen zu einem Parteigänger der sozialistischen Gewerkschaften (und damit in vieler Hinsicht zu einem Sprachrohr auch von Dos Passos selber, der zur Zeit der Abfassung des Romans sich selber als Sozialist verstand – allerdings sind sowohl im Roman wie wohl auch bei Dos Passos selber die ideologischen Grenzen keineswegs so klar gesetzt wie heute: Sozialismus umfasste damals in den Augen des Publikums, der Gegner und auch der Anhänger vieles – Anarchismus, Kommunismus, sozialdemokratische Ansätze, Fourierismus, Marxismus, christlich-soziale Tendenzen etc.). In San Francisco schwängert Mac eine junge Frau. Nachdem er zuerst weggerannt ist, kehrt er zurück und heiratet sie. Aber nach dem zweiten Kind übermannt ihn seine Wanderlust abermals und wir finden ihn später in Mexiko als Buchhändler – kurz bevor ihn eine Revolution von dort vertreiben wird. Die anderen Gestalten sind im ersten Band der Trilogie weniger prominent. Fast alle gehören der Unterschicht an oder dann einem aufstreben wollenden Mittelstand. Sie haben kaum oder keine Verbindung untereinander; manchmal wird eine Nebenfigur beim einen und bei der anderen auftauchen, aber das hat – wie im richtigen Leben – keine Konsequenzen, weder für die Haupt- noch für die Nebenfigur. Mit seiner Auswahl an Personal gelingt es Dos Passos ganz nebenbei den Mythos der amerikanischen Gleichheit und Freiheit zu zerstören, und dies, obwohl er keine Afroamerikaner oder Indigene auftreten lässt.
So viel zum Hauptstrang der Erzählung. Johnson hat als Einführung in den Tag oft ein Zitat aus einem Artikel der New York Times gebracht. Sein Vorbild Dos Passos bringt etwas Ähnliches. Er nennt es Newsreel und nummeriert diese Newsreels durch die ganze Trilogie hindurch. Neben Artikelfetzen (denn es handelt sich selten um ganze Abschnitte) aus der Zeitung (im Roman The 42nd Parallel nimmt der Autor dafür die heute noch existierende Chicago Tribune) hören wir auch Liedfetzen – Ausschnitte aus dem Text bekannter zeitgenössischer populärer Songs. Auch diese sind natürlich dem Zeitpunkt der Ereignisse des jeweiligen Kapitels angepasst.
Der Rückblick in die Vergangenheit, den auch Johnson kennt (und der in den beiden letzten Teilen der Tetralogie den Rest der Geschichte überwuchern sollte), hat Dos Passos noch einmal anders gestaltet als den Rest. Er nennt ihn Camera Eye (und nummeriert auch hier jeden einzelnen so genannten Abschnitt). Dieses Camera Eye bringt denn auch etwas, das der Sicht einer Kamera gleicht: Es handelt sich um Erinnerungen von John Dos Passos selber. Um das Subjektive dieses Teils des Romans noch zu unterstreichen, verwendet der Autor zum Erzählen die Technik des Bewusstseinsstroms.
Die U.S.A.-Trilogie ist im deutschen Sprachraum eher unbekannt geblieben (sie weist noch nicht einmal einen eigenen Wikipedia-Eintrag auf und mit Ausnahme des driten Teils, der in den 1960ern noch einmal übersetzt wurde, stammen die letzten Übersetzungen aus den 1930ern). Ein Grund für diese relative Unbekanntheit ist auch in der deutschen Geschichte zu suchen: Die drei Teile entstanden 1930, 1932 und 1936 respektive – will sagen: schon bald fand sich in Deutschland kein Verlag mehr für die Übersetzungen; der dritte Teil erschien bei der Büchergilde in der Schweiz. In anderen Ländern sieht es anders aus. Jean-Paul Sartre hat sich formal für seine frühen Romane unter anderem an dieser Trilogie orientiert. Darauf, dass der US-Amerikaner John Brunner für seinen Science Fiction-Roman Stand on Zanzibar (auf Deutsch: Morgenwelt) vor allem an den beiden Schlussteilen der Trilogie orientiert hat, habe ich bei der Besprechung von Brunners Roman bereits hingewiesen. (Und auch darauf, dass – ich fürchte, weil das deutschsprachige Publikum mit dieser Form überfordert war und auch die literarische Tradition, in die sich Brunner bewusst stellte, gar nicht kannte – Morgenwelt im deutschen Sprachraum ein Aschenbrödel-Dasein führt, während der – formal einfacher gestrickte – Schockwellenreiter desselben Autors auch hier zum Bestseller wurde.)
Die Struktur von Johnsons Jahrestage ähnelt der der U.S.A.-Trilogie Dos Passos’ zu sehr, als dass ich an einen Zufall zu glauben vermag. Ein großer Unterschied aber besteht: Obwohl (oder weil?) Dos Passos ‚großräumiger‘ erzählt, wechseln die einzelnen Strukturelemente flüssiger. Auch Dos Passos’ Sprache ist flüssiger, lebendiger. Selbst in den Erzählungen der Erlebnisse seiner Protagonist:innen, die in der indirekten Rede stattfinden (!), wirkt seine Sprache nie umständlich. Um einen abgegriffenen Vergleich zu ziehen: Johnson ist abgestandener, kalter Schwarztee – Dos Passos gekühlter und frisch eingeschenkter Champagner. Und ja: Beides kann auf je eigene Art berauschen, aber ich gebe zu: Der Vergleich hinkt. Nur schon deswegen, weil ich persönlich weder Schwarztee noch Champagner trinke, aber Dos Passos’ Sprache ist dem quirligen Wesen seiner Protagonist:innen und ihres Landes angepasst. Immer geschieht etwas – oder zumindest haben seine Leute das Gefühl. Und die Lesenden mit ihnen. Ich für meinen Teil ziehe dies dem eher behäbigen Sprachduktus und der Handlungsarmut des Deutschen vor.
(Der 42. Breitengrad wurde übrigens deswegen in den Titel des Romans gewählt, weil er als einziger die ganze USA der ganzen Breite nach durchquert, meist sogar in der Mitte, viele Staaten trifft, für einige die Grenze darstellt und auf seinem Weg durch die USA nur kurz Kanada streift. Er ist sozusagen das Rückgrat des Landes.)
Wie schon ausgeführt, erschien Johnsons Buch in 2018 endlich komplett in Englisch, zu großem Trara insbesondere in New York ( ➜ https://www.newyorker.com/books/under-review/a-new-translation-of-an-anti-heroic-german-doorstopper-of-1968). Darin wird auch Dos Passos erwähnt:
> The present is filtered through the Times, which Gesine reads in its entirety every day; whole passages are pasted into the text. The tally of deployment and death in Vietnam ticks grimly by. She reads that Purple Hearts will now be given “only for serious injuries,” that Mahalia Jackson has been hospitalized in Berlin, that John McCain has been shot down over Hanoi, and that Stalin’s daughter has defected from the Soviet Union. Svetlana Iosifovna Alliluyeva is a running gag, if this cheerless novel can be said to have gags: she writes a memoir, all “pleading yowls,” and soon she is “planning to buy a car, the best there is in America!” The tactic smacks of the frenetic newsreels blasting from John Dos Passos’s “U.S.A.” novels, of the nineteen-thirties—“THREAT OF MUTINY BY U.S. TROOPS,” “BOLSHEVISM READY TO COLLAPSE SAYS ESCAPED GENERAL,” “BRITISH TRY HARD TO KEEP PROMISE TO HANG KAISER”—but in “Anniversaries” the effect is more like a mute in a trumpet. The Times is Gesine’s “honest old Auntie,” a bastion of fact and balance. It’s also a safe screen through which to view a breaking world.
Man sollte sich nicht auf alte Notizen stützen. Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, dass 2020 bei Rowohlt eine neue Übersetzung erschienen ist. Viel Aufmerksamkeit hat sie aber offenbar nicht erregt, jedenfalls nicht bei mir.