Unter den Büchern meines Vaters befand sich auch dieses hier. (Nehme ich jedenfalls an; an den Buchrücken mit dem Titel Kristin Lavranstochter und den Namen Sigrid Undset der Verfasserin erinnere ich mich sehr gut. Ob es sich allerdings wirklich um den ersten Band von Undsets Trilogie gehandelt hat, kann ich nicht mehr sagen.) Ich habe eigentlich schon sehr früh, mit 10 oder 12, begonnen, alle Bücher meines Vaters auszuprobieren. Manche davon, wie Morgensterns Galgenlieder oder die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels sind lebenslange Lieblinge geworden. Andere, wie Der Orientexpress von Graham Greene haben mich dann doch überfordert. Ich muss mich auch Kristin Lavranstochter versucht haben, aber ich erinnere mich nicht an irgendwelche Details; einzig im Gedächtnis geblieben ist mir, dass ich es, naseweis, wie ich damals schon war, als kitschige Schnulze klassifiziert habe. Dass die Autorin für ihre Trilogie den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, wusste ich zu jener Zeit sicher noch nicht – wusste wohl nicht einmal, was ein Nobelpreis war, egal in welcher Disziplin.
Ich gestehe, dass in all den Jahren, die ins Land gegangen sind, in mir nie der Wunsch wach geworden war, meine damaligen Eindrücke zu überprüfen. Erst, als dieses Jahr der Kröner-Verlag eine Neuübersetzung von Kristin Lavranstochter auf den Markt brachte und mir das Angebot eines Rezensionsexemplars machte, beschloss ich, meine Erinnerungen aufzufrischen. Verständlicherweise habe ich den Roman von Anfang an unter ganz spezifischen Gesichtspunkten gelesen – nämlich den folgenden drei:
Ist Kristin Lavranstochter wirklich eine kitschige Schnulze?
Wenn nein: Wie gut ist der Text wirklich? (Was impliziert: War es wirklich nötig, eine neue Übersetzung auf dem Markt zu werfen?) – Und:
Wie gut ist die neue Übersetzung?
Nun denn:
Ist Kristin Lavranstochter wirklich eine kitschige Schnulze?
Nein. Es findet zwar sogar eine Liebesgeschichte statt, aber die steht nur zeitweise im Mittelpunkt der Erzählung.
Wie gut ist der Text wirklich?
Dass ein Roman nicht kitschig ist, bedeutet noch nicht, dass er gleich wirklich gut ist. (Das Umgekehrte gilt auch, kommt aber seltener vor.) Undset, die in ihrer Heimat Norwegen nach wie vor zu den ganz Großen gezählt wird, wurde seinerzeit sehr dafür gelobt, dass es ihr gelungen sei, eine ‚echte‘ mittelalterliche Atmosphäre zu erzeugen. Sie wurde später auch dafür getadelt, dass ihr das nicht gelungen sei. Tatsächlich ist es so, dass die historischen Fakten wohl korrekt sind. Die Menschen aber sind nur zum Teil ‚mittelalterlich‘. ‚Mittelalterlich‘ bedeutet bei Undset oft, in den Konventionen der Kirche gefangen zu sein. Vorehelicher Sex zum Beispiel war, wenn man Undset liest, offenbar an der Tagesordnung – dennoch war er verpönt im Originalsinn des Wortes: unter Strafe gestellt – allerdings war das nur für die Frauen wirklich tragisch. Und sei es nur, dass sie am Tag der Hochzeit keinen Kranz tragen durfte, weil das denen vorbehalten war, die als Jungfrau in die Ehe traten. Deshalb zittert und bibert Kristin Lavranstochter, die bereits lange vor der Ehe mit ihrer großen Liebe geschlafen hat und nun einige Wochen vor der Hochzeit feststellen muss, dass sie schwanger ist. Sie möchte unter dem Kranz in die Ehe treten – aber wird man ihr das Bäuchlein nicht doch schon ansehen? Solche Fragen berühren – zumindest in Mitteleuropa – das lesende Publikum nicht mehr unbedingt so, wie sie es wohl noch vor rund 100 Jahren getan haben. Dennoch wird der Text heute als Geschichte einer sich emanzipierenden Frau gelesen – auch wenn Kristins Emanzipation vor allem darin besteht, die Verlobung mit dem ihr vom Vater zugedachten, reichen und netten Mann zu lösen und den eher anrüchigen Erlend heiraten zu wollen. Es gab sicher schon Liebe und Liebesheiraten im Mittelalter, aber so ganz typisch sind sie für diese Epoche nicht, und von daher verstehe ich die Kritik an Undsets Verständnis des Mittelalters.
War es wirklich nötig, eine neue Übersetzung auf dem Markt zu werfen?
Was dann neben der eigentlichen Geschichte bleibt, ist die Sprache. Undset erzählt in der dritten Person. Dialoge und introspektives Verfolgen von Gedankengängen der Protagonistin sind an der Tagesordnung. Landschaftsbeschreibung ist der Autorin Ding weniger – die norwegischen Landschaften bleiben merkwürdig blass. Die Sprache – zumindest in der vorliegenden Übersetzung ist ruhig und fliessend. Sie bietet aber keine Überraschungen oder als typisch einzustufenden Stilelemente an. Ich denke nicht, dass das das Problem der Übersetzerin Gabriele Haefs ist – Undset hat wohl wirklich eine zwar flüssige und an sich schöne Sprache geschrieben, die aber leider keinen bleibenden Eindruck beim Publikum zu hinterlassen vermag. Die Übersetzung als solche kann ich deshalb nur loben.
Summa summarum
Nein, kitschig ist dieser Roman nicht. Aber zur ganz großen Weltliteratur fehlt dessen Protagonistinnen das ganz große Leiden. Und der Autorin die ganz große Sprache. Nicht, dass ich die Lektüre bereut hätte – Sigrid Undset kann durchaus schreiben. Und man kann sie durchaus und ohne Reue lesen. Immerhin wird der Roman bis auf weiteres in meiner Bibliothek bleiben, nachdem ich das Exemplar meines Vaters vor Jahrzehnten schon aus den Augen verloren habe. Nur: Die ganz, ganz große (Wieder-)Entdeckung ist der Roman meiner Meinung nach nicht.
Sigrid Undset: Kristin Lavranstochter. Der Kranz. Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs. Stuttgart: Kröner, 2021.
Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.