Auf Twitter postete neulich eine schreibende Person (ich habe vergessen, ob es Weiblein war oder Männlein oder beides oder keins von beiden), dass sie immer erstaunt sei, welches Eigenleben ihre Figuren im Laufe des Schreibens erhielten. Ich war mehr erstaunt über ihr Erstaunen. Programmierer kennen das Quietscheentchen Debugging: Ich erkläre einer Quietscheente auf meinem Schreibtisch so lange, was das Programm machen sollte, was es tatsächlich macht, was ich schon versucht habe, um den Fehler zu finden, bis mein Geist die zündende Idee hat und den Bug findet. Beide Phänomene sind eigentlich Korrolare von Kleist Allmählicher Verfertigung der Gedanken beim Reden, das er wahrscheinlich 1805 / 1806 geschrieben hat, das aber zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieb. Erst 1878 fand es den Weg an die Öffentlichkeit.
Darin beginnt Kleist mit genau dem gleichen Beispiel wie es das Quietscheentchen Debugging vorsieht. Wenn er, so schreibt er, in seinem Beruf vor einem kniffligen Problem sitzt und keine Lösung weiß, hilft es ihm, den Fall seiner Schwester zu schildern, die neben ihm sitzt und stickt. Die Schwester versteht nicht viel, gibt auch keine Antwort, aber unterm Erklären wird ihm, Kleist, klar, was die Lösung dieses Falls ist.
Kleist erweitert seine Theorie dann, indem er darlegt, wie in der Literatur dieser Trick auch verwendet wird. Ein Protagonist beginnt zu reden – der Autor formuliert so, dass man genau spürt, der Protagonist weiß noch nicht, was er antworten soll – bis er nach zwei- oder dreimaligem Umdrehen eines Satzes im Mund mit der treffenden Formulierung kommt. Dass Kleist die Beispiele aus der französischen Literatur nimmt, aus Molière und La Fontaine, liegt wohl auch daran, dass dort die Umgangssprache – zumindest eben in der Komödie und in der Fabel – eine grössere Rolle spielte als im Deutschen. Ein drittes Beispiel ist dann die berühmt Antwort Mirabeaus an den Zeremonienmeister des französischen Königs, als dieser der Ständeversammlung befohlen hatte, auseinander zu gehen, weil die Sitzung aufgelöst sei. Und dieses Beispiel will ich in extenso zitieren, weil es in Kleists Abhandlung auch stilistisch von ungeheurer Eleganz ist:
Mir fällt jener „Donnerkeil“ des Mirabeau ein, mit welchem er den Ceremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinander zu gehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? „Ja“, antwortete Mirabeau, „wir haben des Königs Befehl vernommen“ – ich bin gewiß, daß er bei diesem humanen Anfang noch nicht an die Bayonnete dachte, mit welchen er schloß: „ja, mein Herr“, wiederholte er, „wir haben ihn vernommen.“ Man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. „Doch was berechtigt Sie“ – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – „uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.“ – Das war es, was er brauchte: „Die Nation gibt Befehle und empfängt keine,“ – um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. „Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre“ – und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: „So sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bayonnete verlassen werden.“ – Worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte.
Die Entwicklung der Gedanken beim Reden der Quietscheente und die Entwicklung eines Charakters unter dem Schreiben – wir finden das alles schon bei Heinrich von Kleist. Und das auf keinen 10 Seiten …
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