Plotin: Schriften in deutscher Übersetzung. Teilband 2 • Schriften 39-54 / Porphyrios: Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften

Teilband 2 enthält cum grano salis die reifen und späten Schriften Plotins. Man merkt es bei der Lektüre: Der Philosoph ist sich jetzt seines Themas sicher und hat sein System so weit ausgefeilt, dass es ohne größere innere Widersprüche formuliert werden kann. Sein Schüler Porphyrios, in der zum Schluss beigefügten Abhandlung Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften, spricht davon, dass die ersten 21 Texte im frühen Alter verfasst wurden und deshalb an Gehalt weniger gewichtig seien, dann folgen 24 Texte, die die volle Höhe der Kraft aufweisen, die späteren dann – vor allem jene, die Plotin schon bei siechem Leibe verfasst habe und mit nachlassender Kraft – fallen dann nach Porphyrios wieder ab. (Woran man, nebenbei bemerkt, schön sieht, wie im Altertum jene absolute Heldenverehrung dem geliebten Lehrer gegenüber, die dann später zum Beispiel die Kant-Biografie von Karl Vorländer so stark prägen sollte, dass er kaum die von früheren Biografen noch offen zugegebene Altersdemenz des Königsberger Philosophen wahr haben wollte – wie jene Heldenverehrung also im Altertum noch gänzlich fehlte.)

Neben Ansätzen zu einer eigenen Kategorienlehre (die allerdings bei weitem nicht die Qualität der Aristotelischen erreicht – erst der oben schon genannte Porphyrios sollte in der Lage sein, die Aristotelische Kategorienlehre mit der Platonischen Ideenlehre so zu verschmelzen, dass er stilbildend für den Neuplatonismus wurde) finden wir in Teilband 2 an wichtigen und gewichtigen Sachen vor allem Aufsätze zur Willensfreiheit des Menschen und zur Vorsehung. Auch wenn Plotin diese Themen getrennt behandelt, gehören sie doch zusammen. Die Problematik, die sich dem reifen Philosophen nunmehr stellt, ist eine innerhalb seines Systems unausweichliche: Wenn die Welt aus dem Willen eines Einzigen entstand und immer noch entsteht – sind dann solche Dinge wie der freie Wille des Menschen überhaupt möglich? Denn es ist für Plotin eine unausweichliche Tatsache, dass diese Welt aus dem Willen des einen Geistes entstanden ist. Das bedeutet aber auch, dass sie für ihn nicht planlos entstanden sein kann. Dennoch aber will er an einem freien Willen festhalten. Er kann das dann nur, indem er sozusagen einen Makrokosmos von einem Mikrokosmos trennt. Er verwendet diese Begriffe nicht, und sie sind hier auch nicht zu 100% korrekt. Was ich meine ist, dass er für die Welt „als Ganzes“ einen Plan postuliert, eine Vorsehung also. In der Welt „im Kleinen“ aber, der Welt nämlich, in der der Mensch sich täglich bewegt, sind die Details keineswegs vorbestimmt, weshalb es denn auch einen freien Willen geben kann. Daraus ergibt sich wohl auch – Plotin ist hier meiner Meinung nach bewusst unklar geblieben – „das Böse“ in der Welt. Aus Gründen, die Plotin nicht erörtert, ist es nämlich so, dass zum großen Plan auch das Böse gehört, das zum Beispiel erst die metaphysische Schönheit der Welt vollendet. Bei der Frage der Glückseligkeit des Einzelnen vertritt Plotin das Ideal des Lebens in Ataraxie – ohne anzugeben, woher er diese Lösung nimmt. Er stimmt praktisch vollständig mit Heraklit überein – aber mit dem hatte er es eigentlich nicht so sehr. Pyrrhon, eine andere mögliche Quelle, will mich auch als unwahrscheinlich dünken; es ist zu vermuten, dass Plotin, der lange in Rom lebte, hier von der in der römischen Stoa nach Heraklit und Pyrrhon überformten Lehre der Apatheia beeinflusst wurde.

Alles in allem genommen, sind diese späteren Werke wenn nicht selbständiger so doch interessanter als seine frühen. Aber zu den Philosophen, die man unbedingt gelesen haben muss, gehört Plotin meiner Ansicht nach nur, wenn man starkes Interesse an der Geschichte der (antiken) Philosophie bezeugt. Oder der des frühen Christentums und der Scholastik.


Plotin: Schriften in deutscher Übersetzung. Teilband 2 • Schriften 39-54 / Porphyrios: Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung von Richard Harder, Rudolf Beutler und Willy Theiler. Hamburg: Meiner, 2020 (Gelesen in der Lizenzausgabe o. J. für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt). [Es handelt sich hier um einen Zusammenzug nur der deutschen Übersetzungen aus einer 1956ff erschienen zweisprachigen Ausgabe der Werke Plotins, erschienen ebenfalls in der Philosophischen Bibliothek bei Meiner. Diese wiederum war eine Bearbeitung einer bereits zwischen 1930 und 1937 erschienenen noch einsprachigen Ausgabe (ebenfalls in der Philosophischen Bibliothek bei Meiner), die Harder noch alleine verantwortet hatte. Er starb indes 1957 unter der Überarbeitung seiner Übersetzung für die Neuausgabe, weshalb Beutler und Theiler in die Bresche sprangen. Über die Rolle Harders im Dritten Reich müssen aber doch auch noch ein paar Worte verloren werden. Sein starkes Engagement in entsprechenden nationalsozialistischen Gremien beweist, dass selbst eine Beschäftigung mit altgriechischer Sprache und mit antiker Philosophie nicht feit vor einer Verehrung des Mythos vom besseren nordischen Menschen. Anders als zum Beispiel Heidegger wurde Harder, der nur ein kleines Würstchen im Wissenschaftsbetrieb war, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs für einige Zeit aus den deutschen Universitäten verbannt. Aber die Aufarbeitung (oder eben: Nicht-Aufarbeitung) des Nationalsozialismus in den beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein trauriges Thema für sich.]

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