Paul Éluard: Poèmes

Éluard war wohl von allen Schriftstellern, die der Gruppe der Surrealisten um André Breton anhingen, der begabteste. Als Lyriker gehört er sogar zur ganz großen und wichtigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Schade, ist das Interesse an Lyrik im deutschen Sprachraum so gering, dass aktuell keine einzige deutsche Übersetzung auf dem Markt ist. Dabei sollte gerade Éluards Lyrik nicht unübersetzbar sein. Seine freien Verse sind melodiös, ohne in puren Klingklang zu verfallen. Er dichtet über Landschaften, die wirken wie Traumgemälde in Aquarell; er schreibt Liebesgedichte und manchmal auch über Angst – vor allem die Angst vor dem Sterben. Seinen Landschaften merkt man Éluards Affinität zur bildenden Kunst, zur Malerei und zur Fotografie, an. Eine Affinität, die sich auch in seinem Leben zeigte. Forsch formuliert, war er innerhalb der Surrealisten eine Art Verbindungsoffizier zwischen der literarischen Fraktion und den Vertretern der bildenden Künste. (Das ging so weit, dass ihn seine erste Frau, Gala, verließ und zu Salvador Dalí übertrat. Was Éluard nicht daran hinderte, ihr noch sein Leben lang Liebesbriefe zu schreiben.)

Auf Französisch gibt es mehrere Ausgaben mit Gedichten von Paul Éluard, was zeigt, dass für einmal der Prophet doch etwas gilt in seinem Vaterland. Vor mir liegt eine sehr interessante Auswahlausgabe, die im Oktober 2017 bei Gallimard erschienen ist. Interessant deshalb, weil sie in einer Reihe erschienen ist, die sich Folio Junior nennt – also für Kinder und / oder Jugendliche gedacht ist. Schon diese Tatsache, nämlich dass ein Lyriker des 20. Jahrhunderts in einer solchen Auswahl erscheint, ist bemerkenswert. (Auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels sind noch andere Bücher dieser Reihe abgebildet: Es sind darin offenbar auch ausgewählte Texte von Prévert, Rimbaud, Apollinaire, Aragon oder Hugo erhältlich.) Das Büchlein in einem Format irgendwo zwischen Reclam-Heft und Standardtaschenbuch (z. B. dtv) umfasst keine 100 Seiten. Immer wieder sind schwarzweiße Tuschzeichnungen eingefügt, und der Satz ist recht großzügig gehalten. Die Gedichte stammen aus allen Epochen von Éluards Schaffen.

Alles in allem stellt dieses Büchlein mehr eine Art Appetithappen vor, das zu weiterer Lektüre des Autors anregen soll. Wenn ich mir dasselbe bei einem deutschen Verlag vorstelle, habe ich unwillkürlich das Bild einer Ausgabe für die Schule vor mir: mit Anmerkungen wie Wort- und Sacherklärungen und vor allem mit einer vorgekauten Interpretation (die dann, wie das leider bei vielen Deutschlehrern vorkommt, natürlich die einzig richtige ist und die so den Kleinen aufgezwungen wird). Die Franzosen gehen anders vor. Die Gedichte sind unkommentiert. Einzig ein kleiner biografischer Abriss findet sich zum Schluss und eine Seite über Éluards Poetik – den Grund sowie die Art und Weise seines Schreibens – und ein Inhaltsverzeichnis, das jedes Gedicht seinem ursprünglichen Veröffentlichungsort zuordnet (so dass die Lesenden, so sie ein Gedicht ganz speziell packt, diese in der Bibliothek suchen und dort noch mehr lesen können). Man stelle sich vor: Man wirft den Kleinen einen großen Lyriker vor ohne andere literaturpädagogische Aufbereitung, als den Umstand, dass man nicht gerade seine obszönsten oder brutalsten Gedichte*) in die Sammlung aufgenommen hat. Man wirft einen großen Lyriker vor die Kleinen alleine mit der impliziten Aufforderung: „Lies! Ist geil!“

Ich wünschte, das gäbe es auch auf Deutsch.


*) Im Falle Éluards fehlen auch seine politischen Texte. Éluard war ja auch politisch nicht untätig und gehörte lange dem linken Flügel Bretons an in der surrealistischen Bewegungen – bis auch er sich mit Breton über Politik zerstritt.

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