À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) zählt zu den paar Großromanen mit hoher literarischer Qualität, die uns das erste Drittel des 20. Jahrhunderts beschert hat. Der Roman gehört in den erlauchten Kreis derer von Ulysses, Joseph und seine Brüder, Der Mann ohne Eigenschaften sowie U.S.A. – Romane, bei denen es schon genügt, den Titel zu hören, um zu wissen, von wem sie stammen und wovon sie handeln, selbst dann, wenn man sie (noch) nicht gelesen hat. So schön und verdient solch ein hoher Rang in allen Fällen ist, so hat er doch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil für die Rezeption dieser Werke. Sie haben durch ihre Länge und ihre allseits gepriesene Qualität den Ruf des Schwer-, ja Unverständlichen erhalten. Klein-Maxi (von dessen Person es noch nicht sicher ist, ob sie sich zu einem Mann oder einer Frau entwickeln wird), Klein-Maxi also traut sich kaum an solche Romane heran. Allenfalls mit Hilfe einer kommentierten Ausgabe. „Ich verstehe ja sonst nichts davon, und alle Anspielungen gehen mir durch die Latten!“, meint Klein-Maxi. Und mit einer kommentierten Ausgabe? „Da verstehe ich viel mehr und viel besser!“ Nein, Klein-Maxi, du verstehst nicht besser oder mehr – du verstehst, was ein anderer oder eine andere verstanden zu haben glauben. Falls du diese anderen richtig verstehst. Du verkleisterst dir einen eigenen Zugang zu einem Werk, indem du dem breiten Pfad einer Standardinterpretation folgst. Statt einfach À la recherche du temps perdu zu lesen, liest du über den Roman. Das ist aber die Aufgabe von beamteten Literaturwissenschaftler*innen, nicht unsere als Menschen, die einzig zu ihrem Vergnügen lesen.
Interessanterweise findet man im englischen und im französischen Sprachraum diese Tendenz zum begleiteten Lesen viel weniger. Ausgaben, die uns ganz einfach den Text ohne weitere Kommentare vorsetzen, sind dort bei Werken des 20. Jahrhunderts noch an der Tagesordnung. So ist auch meine Ausgabe von À la recherche du temps perdu eine unkommentierte. 1949 bei Gallimard in Paris erschienen, findet man darin noch nicht einmal die Änderungen, die durch neue Textfunde in den späten 1950ern getätigt wurden, sondern den Text, wie er von Marcel Proust (bzw. für die postum erschienenen von seinem Bruder Robert) dem Publikum ursprünglich vorgesetzt wurde, und wie er Roman und Autor berühmt gemacht ist. Die Ausgabe ist, der Erscheinungszeit geschuldet, auf schlechtem, holzhaltigen Papier gedruckt und arg vergilbt. Lesbar ist sie aber noch allemal.
Wir werden (wenn wir uns einmal die ersten zwei Dutzend Seiten oder so durchgekämpft haben, die tatsächlich mühsam sind mit den Schilderungen des verwöhnten Balgs von Ich-Erzähler, der Terror macht und durchmacht, weil seine Mutter, die unten Gesellschaft hat, nicht zu ihm hoch in sein Schlafzimmer kommen kann, um ihm seinen Gute-Nacht-Kuss zu geben) – wir werden also bei einer unbefangenen Lektüre belohnt durch eine faszinierende Schilderung des Lebens einer großbürgerlichen Familie, die, wie damals üblich, den Sommer auf dem Land bei Verwandten verlebt. Nachdem die berühmte Proust’sche Madeleine die Pforten der Erinnerung unseres Erzählers aufgestoßen hat und er nun mehr sieht, als den Gesellschaftsraum, die Treppe zu seinem Zimmer und eben dieses (alles im Haus der Grossmutter), sondern sich auch an andere Dinge aus dem Leben auf dem Land erinnert, nehmen wir nicht nur am Urlaubsleben einer mit feiner Satire geschilderten Großfamilie teil. Wir nehmen Teil an den ersten pubertären Nöten des Ich-Erzählers, wir erleben einen unschuldig-antisemitischen (ja, so etwas ist Proust wirklich gelungen!) Großvater mütterlicherseits, einen viel zu harten Vater und eine viel zu weiche Mutter, so wie einige Großtanten, die jede ihren Spleen hat. Auch die Bediensteten werden nicht ohne Macken geschildert. Daneben lesen wir in vielen detaillierten Schilderungen auch immer wieder das Lob der französischen Provinz – Landschaft wie Bewohner. Combray, in dem der ganze erste Teil spielt, liegt Val de Loire, nicht weit von Paris. (Denn auch die Landschaftsbeschreibungen sind außerordentlich gut geraten!)
Nebenbei: Ich empfehle, das Autobiografische, das, wer sucht, zuhauf in der Suche nach der verlorenen Zeit finden wird, nicht überzubewerten. Es führt uns weg von der puren Lust am Erzählen, die Du côté de chez Swann auszeichnet, und die zur puren Lust am Lesen wird, wenn wir uns auf sie einlassen.
Meine Ausgabe hat die sieben Bücher des Originals in fünfzehn schmalere Bände unterteilt. Ich habe also mit deren erstem Band nur knapp die erste Hälfte des Originalbands Du côté de chez Swann gelesen. Auf die Figur des Swann – in vieler Hinsicht ein Alter Ego oder ein älterer Doppelgänger des Ich-Erzählers – werde ich erst bei der Vorstellung des zweiten Teils des ersten Originalbands eingehen. Leitmotiv-artig taucht er schon früh auf – bereits bei der Schilderung der seltsamen Nöte des seltsamen Kindes, das durch einen Besuch eben dieses Swann um seinen Gute-Nacht-Kuss gebracht wird. Später wird dann der Ich-Erzähler die Gegend um das großmütterliche Haus, in dem er und seine Eltern die Sommerferien verbringen, in eine Seite der Guermantes (das lokal führende Adelsgeschlecht, an das Anschluss zu finden, der bürgerlichen Ich-Erzähler lange versucht), die erst später genau geschildert wird, und in die entgegen gesetzte Seite der Familie Swann, die auch was den Pflanzenwuchs angeht, ganz anders aussieht.
Die später wichtig werdende Sexualität ist im ersten Teil nur in einem flüchtigen Abschnitt hervor gehoben, wo der vor dem Regen unterstehende Ich-Erzähler die Tochter eines kürzlich verstorbenen Freunds des Hauses bei einem Rendezvous mit ihrer Freundin ertappt und zuschaut, wie die beiden sich gegenseitig aufreizen, indem sie auf eine Fotografie des Vaters spucken und ihn beschimpfen. Der Ich-Erzähler spricht hier von Sadismus, was allerdings nur beweist, dass er (und wohl auch Proust) den Marquis de Sade ziemlich sicher nur vom Hörensagen kannte. Im Übrigen bleibt die Szene zwischen den beiden Frauen völlig harmlos, im Gegensatz zur ersten gedruckten Version (noch unter dem Titel Les intermittences du cœur (Das Flimmern des Herzens), in der es nach der Spuckorgie direkter zur Sache ging. Proust hat wohl bei der Überarbeitung gemerkt, dass er hier zu viel vorweg nahm.
Also: Vergesst jedwede Scheu vor einem ‚großen‘ Text. Lest Proust, wie Ihr Eure Lieblingsfantasyautor*innen lest, und Ihr werden einen Riesenspaß haben – mehr Spaß noch als mit denen. (Zugegeben: ‚Action‘, Mord und Totschlag, finden wir hier nicht.)