Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe

Dieses Buch wollte ich schon vor schätzungsweise fünfzig Jahren ‘irgendeinmal’ oder auch ‘demnächst’ lesen und bin aus irgendwelchen Gründen nie dazu gekommen. Bis vor kurzem. Es gibt den schönen Satz: „Besser spät als nie.“ Es gibt aber auch den bedauernden Ausruf: „Zu spät!“ …

Zu spät tatsächlich habe ich dieses Buch nun gelesen. Es hätte mich vor fünfzig Jahren sicherlich beeindruckt. Heute muss ich gestehen, dass, wenn der Text auf der Umschlagrückseite das Buch anpreist als Das berühmte Philosophiebuch für Neugierige und Einsteiger, ich heute vielleicht noch neugierig, aber kein Einsteiger mehr bin und ich deshalb auch wenig Neues erfahren habe. Doch nicht nur das – die philosophische Ausrichtung des Buchs (die mich vor fünfzig Jahren wohl wirklich beeindruckt hätte) gefällt mir nicht so ganz.

Das Buch besteht aus 36 Kapiteln, die jeweils einem bekannten Philosophen gewidmet sind (in der Antike auch mal zwei). Weischedels Vorgehen ist in jedem Kapitel ziemlich genau dasselbe. Getreu dem Untertitel des Buchs (Die großen Philosophen in Alltag und Denken) beginnt er jeden Abschnitt mit einem Teil, der den Philosophen (Frauen sind keine unter den 34 aufgeführten Denkern) … nein, eigentlich selten oder nie in seinem Alltag zeigt. Wir erfahren zwar, wie sich Kant vor dem Schlafengehen in ungeheuer komplizierter aber eleganter Art in seine Bettlaken einwickelt, aber das ist eher die Ausnahme und in ihrer Art für die paar Ausnahmen auch wieder typisch. Was wir vom Alltag der Philosophen erfahren, ist Anekdotisches, sind seltsame Sparren der vorgestellten Denker, die zwar manchmal deren Alltag repräsentieren können, aber manchmal eben auch nicht. Von einigen dieser Anekdoten weiß ich es, bei anderen hege ich den starken Verdacht, dass es so ist: Sie sind apokryph – spätere Erfindungen oder Selbstsuggestion von Freunden und Verwandten lange nach dem Tod des Vorgestellten. In vielen Fällen erfahren wir aber nicht einmal Anekdotisches, sondern Weischedel liefert einfach eine mehr oder weniger kurze Biografie des Philosophen.

An Hand eines bestimmten Zugs des Mannes, der sich in der Biografie manifestiert, wie sie Weischedel schreibt, geht der Autor dann zur Philosophie des Betroffenen über, wo er diesen Zug als Grundgedanken oder -problem wiederfindet. Schon diese Prozedur, dann aber auch die charakteristische Auswahl eines bestimmten Problems und nicht zuletzt deren Darstellung im Folgenden zeigen den Existenzialisten auf, der Weischedel war und seine bevorzugte Auseinandersetzung mit Skeptizismus und Nihilismus. Seine Position, dass doch etwas jenseits der materiellen Dinge sein muss, wenn das Leben einen Sinn haben soll, dringt dabei immer wieder durch. Weischedels Existenzialismus führt bei den antiken Philosophen, die vor zweieinhalb Tausend Jahren und mehr gelebt haben, zu beträchtlichen Verzerrungen, aber auch einem Wittgenstein (weder I noch II noch irgendeiner dazwischen) wird man damit zum Beispiel nicht gerecht. Selbst bei Heidegger und dessen Sein und Zeit, das Weischedel vorstellt, und das noch phänomenologisch von Husserl beeinflusst war und noch nicht völlig im seltsamen existenzialistischen Geraune der späteren Zeit verfasst ist, verliert sich der Autor auf Holzwege. Vor fünfzig Jahren, als ich mich Pubertierenden noch selber als Existenzialisten betrachtete, hätte ich das wohl geschätzt. Heute wäre mir eine neutralere Darstellung lieber.

Die Philosophen werden im Übrigen in chronologischer Reihenfolge vorgestellt. Jede Kapitelüberschrift wird im selben Stil erstellt: ‘Name des Philosophen’ oder ‘Gesichtspunkt unter dem er dargestellt wird’, zum Beispiel Hume oder der skeptische Schiffbruch (wobei es in diesem Kapitel – nebenbei – nicht klar wird, wie und warum Hume Schiffbruch erlitten haben soll; das war wohl eher Wunschdenken Weischedels: Skeptizismus gibt es zwar leider, aber er darf nicht funktionieren). Die Vorgestellten sind, in der Reihenfolge ihres Auftretens: Thales, Parmenides und Heraklit (teilen sich ein Kapitel), Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur und Zenon [der Stoiker von Kition – auf den anderen Zenon weist Weischedel nicht einmal hin] (teilen sich auch ein Kapitel), Plotin, Augustinus, Anselm, Thomas [von Aquin, natürlich], Eckhart, Nikolaus, Descartes, Pascal, Spinoza, Leibniz, Voltaire, Rousseau, Hume, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer [oder Der böse Blick, was schon zeigt, dass Weischedel dem Pessimisten Schopenhauer nicht gerecht zu werden vermag und den von Kant ausgehenden Erkenntnistheoretiker gänzlich vernachlässigt], Kierkegaard, Feuerbach, Marx, Nietzsche, Jaspers, Heidegger, Russell und zum Schluss Wittgenstein. Prolog und Epilog rahmen diese Vorstellungen ein.

Man kann, wie Weischedel im Epilog selber zugibt, immer bedauern, dass der eine oder der andere nicht aufgeführt wurde. (Mir zum Beispiel fehlen die beiden Engländer John Locke und – vor allem als Gegengewicht zu Rousseau – Thomas Hobbes, der andere große Staatstheoretiker der Epoche; bei den Existenzialisten Sartre oder Camus – dessen Mythos des Sisyphos er zwar 1:1 auf Wittgensteins Leben überträgt, aber ohne ein Wort über Camus zu verlieren.) Schwerwiegender ist, was man weglassen könnte. Jaspers Aufnahme in diesen Kanon zum Beispiel ist sicherlich der Entstehungszeit des Buchs geschuldet. In den 1960ern las und diskutierte man noch Jaspers; selbst ich unbedarfter Leser hatte in den 1970ern noch sein Was ist Philosophie? gelesen und kam mir dabei ungeheuer klug vor. Voltaire wiederum war zwar ein unheimlich fruchtbarer Autor und zu seiner Zeit weitherum berühmt, aber alles andere als ein systematischer Philosoph und ich habe den Verdacht, dass er seine Aufnahme vor allem seiner Rolle als Antipode zu Rousseau verdankt. Da wäre fast jeder andere französische Aufklärer eine philosophisch sicherere Bank gewesen.

Fazit: Ein für ein breites Publikum von Neugierigen und Einsteigern gedachtes Buch, das aber für letztere sicher nicht mehr geeignet ist, wenn man darunter Einsteiger*innen ins Studium der Philosophie versteht, weil es selber schon einer Interpretation und Einordnung bedarf. Typisch für Sachbücher jener Zeit: Zitate werden bestenfalls einem Freund von Kant zugeschrieben; es gibt auch keine Fuß- oder Endnoten, die sie verorten würden. Ebenso wenig finden wir eine Liste der wichtigsten Werke der vorgestellten Philosophen oder von wichtiger Sekundärliteratur.


Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. Erstmals 1966 bei Nymphenburger erschienen; vor mir liegt ein Print on Demand des Verlags Lambert Schneider (ein Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft – von der, nebenbei gesagt, Wilhelm Weischedel Gründungsmitglied war) mit Copyright 2017.

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