Paul Scheerbart: Münchhausen und Clarissa

Berlin im Januar 1905. Der alte Baron Münchhausen ist in der Stadt und alle Welt ist in Aufruhr. Na ja … vielleicht nicht „alle Welt“, aber zumindest Clarissa, die achtzehnjährige Tochter des Grafen Rabenstein. Sie war schon immer eine große Verehrerin des Barons; das einzige ‚klassische‘ Gemälde, das in der ansonsten nach modernsten Gesichtspunkten durch gestalteten Villa noch hängt, zeigt sein Porträt. (Clarissa wird später dem Baron erzählen, dass sie einige Auseinandersetzungen mit dem Architekten hatte, bis dieser ihr das Bild aufzuhängen erlaubte.) Die junge Gräfin überredet ihren Vater, Münchhausen zu einer Soirée einzuladen, bei der er von seinen Abenteuern in der Südsee erzählen soll, wo er gerade erst war.

Gesagt, getan. Die eine Soirée wird sich dann zu einer Art Vorlesungsreihe entwickeln, indem der Baron auf Drängen Clarissas und der übrigen Gäste sich bereit erklärt, eine Woche lang davon zu erzählen, was er – nein, nicht in der Südsee sondern – in Australien, an der Weltausstellung in Melbourne, gesehen hat. Nun hat es weder diese Weltausstellung je gegeben, noch ist der Baron genau besehen zum Zeitpunkt der Handlung dieses Romans, wie er immer sagt, 180 Jahre alt. Vielleicht wusste es Scheerbart nicht anders, vielleicht war es ihm auch egal, vielleicht sollte diese Zahl auch eine spezielle Bedeutung im Romangeschehen einnehmen (außer dem Umstand, das er so genau das Zehnfache an Jahren vorzuweisen hat wie Clarissa, sehe ich allerdings nichts) – jedenfalls müsste Münchhausen zum Zeitpunkt der Handlung bereits 184 Jahre alt sein, er kam am 11. Mai 1720 zur Welt.

Was nun aber Münchhausen von dieser nicht-existierenden Weltausstellung erzählt, macht dem alten Flunkerer alle Ehre. Künstlerisch wie technisch sind die Australier offenbar dem alten Europa um einiges voraus. Münchhausen schildert eine Architektur, bei denen zum Beispiel die Wände ständig Farbe und Form verändern, eine Architektur, die gegen innen und außen mit dem Einsatz von viel Glas arbeitet. Selbst die Umgebung ist bei Scheerbart wandelbar: Um die Weltausstellung zu besichtigen, muss man ein Hotelzimmer vor Ort buchen, das dann zugleich das Gefährt wird, mit dem man herumgeführt wird. Es ist also nicht einmal mehr nötig, sein Zimmer zu verlassen – es schwebt als eine Art Schwebebahn über die Seen oder fährt auf Rollen durch die Exponate.

Der Roman weist keine eigentliche Handlung auf. Der Baron erzählt an sieben Tagen von der Ausstellung. (Das verweist natürlich auf entsprechende literarische Konstrukte wie das Decamerone, das Heptamerone etc. und auch auf (Kunst-)Märchen wie zum Beispiel die Märchen aus 1001 Nacht. Erst zum Schluss gibt es etwas Handlung, als Münchhausen und Clarissa beschließen miteinander durchzubrennen. Nicht aus Liebe, sondern weil sie beide von dieser neuen Kunst der Australier derart begeistert sind, dass sie die ganze (zumindest die ganze deutschsprachige) Welt von deren notwendiger Einführung überzeugen wollen. (Sie erleben dann allerdings, und damit schließt der Roman, eine ziemliche Enttäuschung, indem die Welt in ihrem gewohnten Trott weiterfahren will.)

Die Kunst- und Literaturtheorie, die hinter den australischen Exponaten steckt, ist Scheerbarts eigene. Verkleidet als in der Fiktion bereits realisierte Werke stellt Scheerbart seine eigenen künstlerischen Ideale vor. Das Bauen mit Glas war zum Beispiel eine seiner Lieblingsideen, die er auch in der Realität zu verwirklichen suchte. Und auch die Enttäuschung Clarissas und Münchhausens über den mangelnden Enthusiasmus der Umwelt war Scheebarts eigene. Selbst philosophische Gedanken finden wir im Roman. Scheerbart war der Meinung, dass, was wir sehen, nicht immer das ist, was ‚wirklich‘ existiert (sein Münchhausen nimmt die Wörter Erkenntnistheorie und erkenntnistheoretisch einige Male in den Mund). Genauer wird er allerdings nicht, wir müssen wohl schliessen, dass die eigentliche Realität die künstlerische Gestaltung der alltäglichen Realität ist. Kants Ding an sich wäre demnach in der Kunst zu finden.

Im Übrigen lässt sich Scheerbart auch in diesem Roman zu einem Exkurs ins Bizarre, ins Fantastische verleiten. Eine der Hauptattraktionen der Weltausstellung ist nämlich eine Fahrt zum Mittelpunkt der Erde. Dort leben Gestalten, die als die eigentlichen Götter der Erde bezeichnet werden: unförmige bzw. ihre Form immer wieder ändernde Lebewesen, die sich nicht oder kaum von der Stelle bewegen und die in ihrem Aussehen sehr ähnlich geschildert werden, wie es H. P. Lovecraft mit seinen Außerirdischen im Mythus des Cthulhu getan hat. Nur sind Scheerbarts Gestalten offenbar gutartig oder gutmütig; manchmal lassen sie sich sogar von Menschen berühren und weisen dann eine lederartige Haut auf.

Außer einem Einblick in die doch recht krausen Theorien zu Kunst und Literatur und den seltsamen Gestalten im Zentrum der Erde, gibt es hier wenig zu besichtigen. Man muss so etwas mögen, man muss Scheerbart, den weisen Clown (Otto Julius Bierbaum) mögen, um diesen Roman zu mögen. Auch wenn er 1991 noch von Rowohlt in der Reihe Rowohlt Jahrhundert veröffentlicht wurde, ist er wohl kein Roman für die Mehrheit der Lesenden.

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