Meister Eckhart: Mystische Schriften. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Gustav Landauer. Frankfurt/M: Insel, 1992. (= insel taschenbuch 1302) [ursprünglich 1903 erschienen]
Dass ich dieses Aperçu mit den bibliografischen Angaben beginne, hat seinen Grund darin, dass man wissen muss, was auf einen zukommt, wenn man (wie ich) ausgerechnet diese Ausgabe gelesen hat. Als ich das Buch am 10. Mai 1999 kaufte (der Kassenbon liegt noch drin), wusste ich das noch nicht. Daran, ob ich das Buch extra bestellt habe, oder ob es schon im Regal meiner Buchhandlung stand, kann ich mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls habe ich es gekauft, um meine damalige Leselücke in Bezug auf Meister Eckhart zu füllen. Heute weiß ich, dass das mit der Ausgabe von Landauer nur bedingt der Fall sein kann.
Nämlich: Gustav Landauer, ursprünglich kommunistischer und anarchistischer Religionskritiker, um nicht zu sagen geschworener Religionsfeind, der als solcher mit der jüdischen Religionsgemeinschaft gebrochen hatte, der er ursprünglich zugehörte, begann ab 1903, sich mit der christlich-mystischen Tradition zu beschäftigen. Ein Resultat dieser Beschäftigung ist die vorliegende Übertragung einiger Texte Meister Eckharts. „Übertragung“, nicht „Übersetzung“ – Landauer erlaubt sich einige Freiheiten mit dem Kölner Dominikaner. So ließ er, wie er selber im Nachwort zugibt, die meisten theologischen Argumente Eckharts (Landauer spricht despektierlich von Scholastik) einfach weg, ebenfalls die meisten Bezüge auf die Texte der Schrift, auf die sich Eckhart in seinen Predigten ganz zu Beginn jeweils bezieht. In einigen Fällen wählte er so kleine Ausschnitte aus größeren Texten, dass Eckhart auf einen mystischen Aphoristiker reduziert wird – was eine gloriose Unverständlichkeit seiner Aussagen suggeriert, die Eckhart genau vermeiden wollte.
Es geht Landauer einzig um die Gotteserfahrung, die seiner Meinung nach Eckhart gemacht haben muss. Für ihn ist der mittelalterliche Theologe eine Art Pantheist, einer allerdings, der anders als Spinoza nicht Gott in die Welt gebracht hat, sondern die Welt in Gott. Landauer orientiert sich dabei offenbar an Fritz Mauthners Mystik-Begriff, der (zum Beispiel am Schluss seiner Geschichte des Atheismus) von einer gottlosen Mystik spricht, die darin bestehen soll, dass der Mystiker versucht, das Unnennbare zu benennen – unabhängig davon, ob dieses Unnennbare in Form einer Ekstase erfahren wird, oder über eine intellektuelle ‚Deduktion‘ erschlossen.
In dieser letzteren Form könnte man von Meister Eckhart tatsächlich als von einem ‚Mystiker‘ sprechen; ich bezweifle allerdings, dass diese Umdeutung des Begriffs ‚Mystik‘ legitim ist. Gott nämlich ist für Eckhart zwar der sprachlich-logisch Unnennbare oder besser der Unerkennbare. Diese Entität ‚gott‘ jenseits des menschlichen Verstands ist nicht jener Gott der christlich-scholastischen Trinität, sondern steht irgendwie noch darüber. Denn die Trinität ist, dadurch dass sie immer schöpft, immer schon Natur. Der unnennbare
Gott [aber – P.H.] ist in allen Dingen. Je mehr er in den Dingen ist, je mehr ist er aus den Dingen; je mehr er innen, je mehr er außen ist. Ich habe es schon öfters gesagt, dass Gott all diese Welt jetzt ganz und gar erschafft. Alles was Gott je vor sechstausend Jahren und mehr erschuf, als Gott die Welt machte, das schafft Gott jetzt zumal. Gott ist in allen Dinge, aber insofern Gott göttlich ist und insofern Gott vernünftig ist, ist Gott nirgends so eigentlich wie in der Seele [und in dem Engel, wenn du willst – G.L.], in dem Innersten der Seele und in dem Höchsten der Seele.
Dieser Abschnitt (von dem ich den Verdacht hege, dass er versehentlich hinein gerutscht ist), zeigt nicht nur die getragene und oft pathetische Sprache auf, in die Landauer den alten Meister überträgt, sondern auch wie Eckhart beim Versuch, den Unnennbaren doch zu nennen, zu einer ganz eigener Form einer prä-hegelianischen Dialektik findet. Und, dort, wo Eckhart behauptet, dass Gott als eine Art Residuum in jeder menschlichen Seele steckt, haben wir zugleich auch einen der Punkte, wegen welcher er von Papst Johannes XXII. der Irrlehre bezichtigt wurde.
Als Dokument der Wirkungsgeschichte Meister Eckharts interessant; wer aber den Meister wirklich kennen lernen möchte, wird wohl gut tun, sich mindestens mit der zweibändigen Auswahlausgabe beim Deutschen Klassiker Verlag zu beschäftigen, wenn nicht gar der kritischen Ausgabe seiner Werke, die bei Kohlhammer erschienen ist.