Lukian: Philosophische Schriften

Ausschnitt aus einer alten Handschrift eines Textes von Lukian, der als Coverbild verwendet wurde.

Wir haben hier den zweiten Band der frisch gestarteten Werkausgabe (Originaltext und Übersetzung) vor uns, die Peter von Möllendorff für die Sammlung Tusculum betreut. Nach den Schriften zur Rhetorik sind nun die zur Philosophie des sich selbst als solchen bezeichnenden Syrers Lukian an der Reihe. Wiederum sind es kurze Texte, von denen man im heutigen Verständnis wohl einige eher als Essays bezeichnen würde; es finden sich aber auch Dialoge in sokratischer Manier, Mischformen wie jene fiktiv-allegorische Gerichtsverhandlung, die die großen Philosophen über den Verfasser einer Satire zum Wesen der Philosophie in Athen halten, und die halb attische Komödie ist, halb Erzählung. Alle Texte zeichnen sich durch eine gehörige Portion Satire aus, die Lukian über deren Personal schüttet. Womit bereits auch etwas weiteres ausgesagt ist: Lukians Texte gehen allesamt nicht über philosophische Themen im eigentlichen Sinn; er handelt von der Philosophie als solcher und von einzelnen Philosophen als Menschen, nicht als Philosophen. Dabei sind – mit Ausnahme der schon erwähnten Gerichtsverhandlung, bei der praktisch alle bekannten Philosophen der Antike auftreten – die Philosophen, die Lukian durch den Kakao zieht, fiktiv und beispielhaft aufzufassen.

Lukian lebte von 120 bis etwa 180 u.Z., also kurz vor der Spätantike, zur Regierungszeit von Kaiser Marc Aurel. Erst der vorliegende Band hat mir den Zustand der griechischen und römischen Philosophie in jener Epoche ganz zu Bewusstsein gebracht. Ich wusste wohl, dass die verschiedenen Schulen mit zum Teil ehrwürdigem Alter, weil noch von Platon oder Aristoteles gegründet, nach wie vor existierten und nach wie vor ihre Schulhäupter hatten. Ich wusste auch, dass diese Schulen und Schulhäupter sehr rasch in die philosophische Bedeutungslosigkeit versunken sind. Mit Ausnahme vielleicht des einzigen Theophrast (der aber noch Aristoteles selber erlebt hatte) sind keine Philosophen auszumachen, die wirklich jenseits eines hoch spezialisierten philosophiegeschichtlichen Interesses von Wichtigkeit wären. Dennoch, auch das wusste ich, war Athen nach wie vor der Nabel der philosophischen Welt des Römischen Reichs. Wer immer es vermochte, reiste nach Athen, um dort zumindest einmal einen athenischen Lehrer zu hören, vielleicht sogar ein Semester oder mehr in einer Schule zu verbringen. Alternativ verschrieb man sich auch Lehrer von dort nach Rom – manche Philosophen reisten auch gleich von sich aus, um dort ihre Philosophie zu verkaufen.

Das alles war mir klar, und das ist auch die Grundlage von Lukians Texten. Wenn neben den fiktiven Lehrern noch Namen genannt werden, sind es immer die der ganz alten Philosophen: die Vorsokratiker, Sokrates und die Sokratiker, Platon, Aristoteles und ein einziges Mal Epiktet, als Jüngster. Auf Marc Aurel, zu dessen Zeit Lukian ja wirkte, wird ein einziges Mal angespielt – ohne ihn beim Namen zu nennen –, als es darum geht, dass in Athen (in heutiger Terminologie) Schulleiterstellen ausgeschrieben waren, die eine ganz anständige Jahresbesoldung aufwiesen. Als Philosophen nennt er Marc Aurel nicht, was logisch ist: Sein Τὰ εἰς ἑαυτόνa konnte er noch nicht kennen, weil er noch daran schrieb.

Was ich aber nicht wusste bzw. mir zu wenig klar gemacht habe, und was ich für durchaus wahrscheinlich halte, auch wenn Lukian die Situation in Athen wohl satirisch übertreibend dargestellt hat: dass seit den Zeiten eines Platon und eines Aristoteles Grundlegendes geändert hatte. Schon bald nach dem Tod der Schulgründer begannen die Philosophen für ihre Lehre Geld zu verlangen. Geld aber korrumpiert offenbar auch Philosophen, und wenn wir von Lukians Erzählungen auch die Hälfte streichen, so scheint es im 2. Jahrhundert u.Z. schon so gewesen zu sein, dass zumindest ein paar Lehrer ihre Schüler so lange wie möglich im Status eines Schülers hielten, waren doch nur so Kollegiengelder einzuziehen. Ein Kollateralschaden dieses Umstands war, dass nun auch nominelle Stoiker oder Zyniker den Genuss lieben lernten. Es ist nachgerade ein Topos in Lukians philosophischen Schriften, dass alle Philosophielehrer zwar Verzicht auf oder zumindest Mäßigung bei Wein, Weib und Gesang einforderten, selber aber nicht nach ihren Vorschriften lebten, sondern im Gegenteil einen gut assortierten Weinkeller hielten, den Gattinnen ihrer Gastgeber und Schüler nachstiegen und auch ausladenden Festgelagen nicht abgeneigt waren. Das geht so weit, dass – als bei einem Gastmahl (genauer: einer Hochzeitsfeier) die eingeladenen Häupter der verschiedenen Schulen miteinander in Streit gerieten – dieser Streit von den (offenbar stockbesoffenen) Philosophen nicht mehr nur verbal, sondern mit physischer Gewalt ausgetragen wurde. Was zu einigen ziemlich schweren Verletzungen führte.

Nun ist Lukian natürlich auch ein Kind seiner Zeit. Hinter seiner Satire steht zwar eine Idee dessen, was ‚Philosophie‘ sein müsste, aber diese Idee bleibt auch bei ihm schwammig und ist keineswegs elaboriert. Von den verschiedenen Disziplinen der Philosophie, wie sie die Vorsokratiker, wohl auch Platon, ganz sicher noch Aristoteles ausgeübt haben, finden wir bei ihm kaum mehr etwas. Wenn wir etwa die drei philosophischen „Disziplinen“ anschauen, wie sie die Gründer der Stoa noch verstanden und gelehrt haben, so fällt die Physik (bzw. Kosmologie) bei Lukian ganz weg. Gerade, dass Demonax (eine Hauptfigur einer seiner Dialoge, der im Großen und Ganzen als ein idealer Philosoph dargestellt wird) in seinem Studierzimmer eine aus Weide geflochtene Kugel hält, die wohl sein Interesse an solchen Dingen symbolisieren soll. Über die Logik macht sich Lukian regelmäßig lustig, wenn er gerade die Stoiker sinnlose Syllogismen aufzählen lässt, deren einziger Zweck es ist, den Laien und Neuling zu verwirren. Es bleibt die Ethik im weitesten Sinn, die ja schon bei Epiktet und Marc Aurel als einziges übrig geblieben ist. Doch auch da wird Lukian keineswegs präzise. Ihm schweben offenbar eine Handvoll Tugenden vor, die der Philosoph aufweisen sollte: Mäßigung bei jeder Form von Genuss, Übereinstimmung von Lehre und eigenem Leben und vor allem eine ‚vita activa‘ – ein Sich-Einbringen in die Gemeinschaft. Es fällt auf, dass von den als positive Beispiele aufgeführten Gestalten seiner Texte nicht einer diese Anforderungen völlig erfüllt. Ob wir daraus auf einen grundlegenden Pessimismus Lukian schließen dürfen? Ich vermag es nicht zu sagen.

Summa summarum: Es finden sich vergnüglich zu lesende Satiren in diesem Band – eine Philosophie im eigentlichen Sinn aber nicht.


Lukian: Band II: Philosophische Schriften. Griechisch – deutsch. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Peter von Möllendorff. Unter Mitwirkung von Jens Gerlach. Berlin, Boston: Walter de Gruyter, mit Copyright 2023, aber bereits November 2022 erschienen. (Teil der Sammlung Tusculum).

Nach wie vor habe ich keinen eigentlichen Editionsplan gefunden. Querverweise in den Anmerkungen auf noch folgende Bände lassen mich vermuten, dass die Sammlung Tusculum ihrem Vorbild, der Loeb Classical Library, folgen und Lukian in acht Bänden herausgeben wird. Allerdings lässt sich bereits feststellen, dass die Schriften in der deutschen Ausgabe anders zusammengestellt sind als in der englischen.

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