Wilhelm Hauff: Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven

Der kleine Muck spielt mit den Katzen. Ausschnitt einer Originalillustration der Erstausgabe auf dem Buchcover.

Als Titel habe ich für dieses Aperçu die Überschrift genommen, die Wilhelm Hauff der Rahmenerzählung seines Märchenalmanach für Söhne und Töchter gebildeter Stände auf das Jahr 1827 gegeben hat. Ich folge darin meiner Ausgabe der Hauff’schen Märchen1), in der zwar im Text ein Faksimile des Titelblatt eines jeden Almanachs figuriert, das Inhaltsverzeichnis aber die drei Almanache, die Hauff herausgegeben (und deren Texte er zum größten Teil auch selber verfasst hat) nach dem Titel ihrer jeweiligen Rahmenerzählung aufführt. Dass ich den mittleren und nicht den ersten der drei Almanache vorstelle, hat seine Gründe, die vielleicht später klar werden.

Der Märchenalmanach für Söhne und Töchter gebildeter Stände auf das Jahr 1827

Nicht alle Märchen des zweiten Almanachs stammen von Hauff, und nicht alle Märchen sind eigentliche Märchen. Wir finden auch Erzählungen darin, die wohl etwas skurril-grotesk sein mögen oder auch einfach nur in fremdländischem Anzug daher kommen, aber nichts Märchenhaftes (d.i. Übernatürliches wie Geister, Hexen oder Zauberer) in sich tragen. Hauff als Herausgeber fügte auch fremde Texte ein: ein Märchen des Vielschreibers Gustav Adolf Schöll mit dem Titel Der arme Stephan, die Groteske Der gebackene Kopf des Engländers James Justinian Morier; zwei Märchen steuerte Wilhelm Grimm bei – Das Fest der Unterirdischen und Schneeweißchen und Rosenrot. Der Rest und auch der Rahmen stammt von Hauff.

Die Rahmenerzählung führt vier junge Männer aus Alessandria ein, die über den Herrscher der Stadt, eben über den Scheik und sein merkwürdiges Benehmen diskutieren. Ein alter Mann, allem Anschein nach ein Bettler, gesellt sich zu ihnen und erklärt ihnen, warum der Scheik seit 10 Jahren um seinen im Krieg entführten Sohn trauert und dennoch einmal im Jahr ein großes Fest durchführt. Er anerbietet sich, die vier in den Festsaal zu führen, wo der Scheik sich mit seinem Gefolge befindet, darunter auch zehn Sklaven, die zur Feier des Tages frei gelassen werden sollen – dies, weil der Scheik hofft, dass sein Sohn, der irgendwo in der Fremde wohl ebenfalls als Sklave sein Leben fristet, von seinem Herrn ebenso gut behandelt und vielleicht ebenfalls eines Tages frei gelassen wird, wie er es mit seinen Sklaven macht. Zum Abschied aber müssen die Sklaven ihm noch eine Geschichte erzählen. Diese Geschichten bilden dann die Binnenerzählungen des Almanachs.

Bei Hauffs Binnenerzählungen (die übrigen haben wir oben schon aufgeführt) handelt es sich um

  • Der Zwerg Nase
  • Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
  • Der Affe als Mensch
  • Die Geschichte Almansors

Davon ist nur Der Zwerg Nase ein eigentliches Märchen; Abner und Almansor sind Erzählungen ohne übernatürlichen Hintergrund, allerdings in orientalisch-exotischem Gewand. Der Affe als Mensch spielt in einer (süd-?)deutschen Kleinstadt und könnte eher als Science Fiction denn als Märchen bezeichnet werden, weil darin ein Orang Utan vorkommt, der die deutsche Sprache sprechen lernt. Ich werde jetzt nicht den Inhalt der einzelnen Erzählungen zusammenfassen, nur so viel sei gesagt, dass Hauff in Abner einmal mehr einen Juden in Worten schildert, die er wohl als satirisch betrachtete, die für unser heutiges Empfinden (und wohl auch damals schon) aber sehr viel antisemitische Ressentiments auf Seiten des Autors spüren lassen. Wir haben Ähnliches schon in den Mitteilungen aus den Memoiren des Satan gefunden – und es ist vielleicht gut, dass Hauff nicht mehr schreiben konnte; Hauff, der ansonsten in seinen Märchen irgendwo zwischen gemütlichem Biedermeier, spätester Spätromantik und ein bisschen Vormärz2) changiert, wäre, fürchte ich, mit zunehmendem Alter noch mehr ins antisemitische Fahrwasser geraten.

Im Übrigen ist wohl klar: Bei Hauff, der rasend schnell schrieb und redigierte – einen Teil der Redaktionsarbeit am zweiten Märchenalmanach überließ er allerdings seinem Bruder, weil er selber auf Reisen war – bei Hauff also nach Einflüssen anderer Autoren zu suchen, ist ungefähr das Gegenteil einer Sisyphus-Arbeit. Er schrieb nicht nur ungeheuer viel, er las auch ungeheuer viel und verarbeitete das Gelesene äußerst rasant – was allerdings auch bedeutete, dass er seine Spuren kaum verwischte. Die Märchen aus tausendundeiner Nacht spielen nicht nur für das Setting des Rahmens eine Rolle. Von Voltaire (ausgerechnet!) hat er das Grundgerüst seiner Geschichte um Abner. Der Affe als Mensch (der übrigens die Schlusspointe schon im Titel verrät – da hat Hauff geschludert) ist schamlos von einer Geschichte E. T. A. Hoffmanns kopiert.

Hauffs Märchen und die Literaturwissenschaft

Entsprechend (und weil Hauffs Märchen weder sprachlich eine Meisterleistung darstellen, noch inhaltlich sich für glanzvolle Interpretationsarbeit anbieten) wird Hauff, werden seine Märchen, von der Literaturwissenschaft sehr von oben herab betrachtet. Sicher: Anders als zum Beispiel bei Hoffmann, wo dem es genügt, einen Abschnitt zu lesen, um auch ohne Autorenangabe zu wissen, wer das geschrieben hat, ist Hauffs Sprache zwar makellos, aber ohne individuelle Züge. Es gibt keinen Hauff’schen Stil. Das fällt ins Auge gegen Ende und dann ganz am Schluss der Erzählung Almansor, die zugleich ins Ende der Rahmenerzählung mündet. Spätestens dann, als der Petit Caporal (also Napoléon) auftaucht und die Anekdote wiederholt wird, wie Almansor und der Petit Caporal Napoléons Schloss betreten (Almansor war ängstlich, wie er den Kaiser erkennen sollte, und der Petit Caporal gab ihm den Tipp darauf zu schauen, wer von allen als einziger den Hut aufbehielte), wo Almansor dann merkt, dass nur er und sein Begleiter noch einen Hut aufhaben, er aber nicht der Kaiser sein kann – spätestens bei dieser Anekdote, bei dieser positiven Schilderung Napoléons, und dann auch beim ganzen Schluss des Rahmens, denkt man sofort an ähnliche Geschichten aus dem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes von Johann Peter Hebel. Aber welch anderen, unverkennbaren Ton wusste der Alemanne seinen Geschichten zu geben!

Auch die metatextlichen Diskussionen, die Hoffmann zum Beispiel seine Erzähler im Rahmen der Serapionsbrüder führen lässt, sucht man in dieser Art bei Hauff umsonst. Wohl diskutieren unsere vier jungen Männer mit dem alten Weisen darüber, warum denn nun die Geschichte des gebackenen Kopfes fürs Publikum so interessant sei. Über in paar Gemeinplätze kommt aber selbst der Weise nicht hinaus, was auch daran liegen mag, dass Hauff von der Erzählung Moriers nur eine Zusammenfassung kannte. In seinem Überleitungstext gibt er ihm deshalb zu viel Kredit und wirkt lächerlich in seinem Lob. Er lässt es aber auch bei diesem einen Mal bleiben; die übrigen Überleitungstexte bringen nur die Handlung des Rahmens jeweils ein Stückchen weiter.

Die exotische Kulisse bildet Hauff vor allem damit, dass er eine Reihe von Schlüsselwörtern fallen lässt: Scheik, Giaur, Dragoman, Reis-Effendi, Frankistan etc. Das ist ein äußerst effizientes Vorgehen, das später auch Karl May anwenden wird. (Ob er von Hauff kopiert hat, kann ich nicht sagen, meines Wissens hat das auch noch niemand untersucht.)

Was die Literaturwissenschaft wiederum ärgert: Das Höchste an Tiefsinn in Hauffs Märchen liegt sehr an deren Oberfläche. Allenfalls kann man interpretierend sagen, dass zum Beispiel der Zwerg Nase als Beispiel zu nehmen ist für eine Person, die sich nicht unterkriegen lässt und immer einen Weg weiß, wie es weiter gehen soll, auch wenn dieser weitere Weg nicht dem ursprünglich intendierten entspricht, oder als Beispiel, dass auch behinderte Menschen Begabungen haben und es im Leben weit bringen können, wenn man sie nur lässt – viel mehr lässt sich nicht beibringen. Anders als bei Hoffmann haben wir bei Hauff keine vertrackten und impliziten Auseinandersetzungen zum Beispiel mit der Problematik eines (künstlerischen) Genies. Kein Fall für die Literaturwissenschaft also.

Das sind recht simple, ja kindische Interpretationen, aber es handelt sich bei diesen Geschichten hier ja auch um Kindergeschichten, größtenteils jedenfalls. Und sein Zielpublikum hat Hauff treffsicher erreicht. Nun sind aber selbst Kindergeschichten Moden unterworfen: Sie kommen und meist verschwinden sie auch wieder. Karl May, Enid Blyton – you name them, we lost them. Ich möchte aber beinahe wetten, dass alle von uns, die als Kinder überhaupt gern Geschichten gehört und / oder gelesen haben, mindestens die Hälfte der Märchen, die Hauff geschrieben hat, mehr oder weniger auswendig hersagen könnten. (Es sind ja nur vierzehn – davon weiß ich auch heute noch von sieben deren Handlung ziemlich genau auswendig.) Und nicht nur das – wir lieben Hauffs Märchen auch als Erwachsene nach wie vor. (Ähnliches hat nur H. C. Andersen mit seinen Kunstmärchen geschafft, und von den Brüdern Grimm gibt es ebenfalls ein paar Märchen, die noch heute alle kennen und lieben. Aber selbst bei Andersen beträgt die Ausbeute der „volkstümlichen“ Märchen nicht 50%; und der Kinder- und Hausmärchen sind es über zweihundert, davon sind vielleicht ein gutes Dutzend oder zwei einigermaßen „volkstümlich“.)

Wenn Geschichten volkstümlich werden (und vor allem bleiben), wenn Geschichten zwei Jahrhunderte überdauern und immer noch rezipiert (gehört, gelesen, verfilmt, auf die Bühne gebracht) werden, dann muss – behaupte ich gegen den allgemeinen Ton der Literaturwissenschaft – etwas an ihnen sein. Ich bin nämlich der Meinung, dass zwar ein kurzfristiger Erfolg auch mit minderwertiger Ware möglich ist. Langfristig wird sich aber auch bei volkstümlichen Büchern nur Qualität durchsetzen. Wer kennt und liest heute noch Johannes Mario Simmel, dessen Romane jetzt die öffentlichen Bücherschränke verstopfen? Enid Blyton lesen Erwachsene heute noch aus nostalgischen Gründen und sind meist entsetzt darüber, was sie mal als gut betrachtet haben. Karl May ist ein Beispiel dafür, dass literaturgeschichtliche Kurzfristigkeit auch mal an die hundert Jahre dauern kann; hätten sich in den 1960ern nicht mit Schmidt und Wollschläger zwei Ausnahme-Autoren ausdauernd um ihn gekümmert, wäre er schon damals verschollen und die Filme, die für eine gewisse Zeit das Karl-May-Feuer von Neuem anfachten, hätte es nie gegeben.

Was also macht (fast alle) Märchen Hauffs so gut, dass sie nun schon seit rund zweihundert Jahren im Gedächtnis der Lesenden geblieben sind? Zum einen, vermute ich, ist es der völlige Mangel an Kitsch. Ja, Zwerg Nase heult einen Moment lang Rotz und Wasser, als er realisiert, was die sieben Jahre bei der Hexe ihm angetan haben. Aber dann packen ihn Stolz und Ehrgeiz. Er will nicht der Vorzeige-Clown eines Barbiers werden, sondern machen, was er am besten kann: kochen. Und von da an tut er sich nie mehr leid, bis er erlöst wird. Hauff packt sogar eine schöne Portion Ironie in die Schilderung, wie der kleinwüchsige Mann am Hof kocht und in der Küchenhierarchie aufsteigt. Das ist kein Kitsch, das geht – wie biedermeierliche Literatur in Deutschland überhaupt – schon in den Realismus über. Hauff braucht keine vertrackten literarischen Rätsel. Er schildert, mal in fremdländisch-exotischem Gewand, mal auch nicht, das Stehaufmännchen ‚Mensch‘ mit einer durchaus nüchternen Stimme. Er schildert den Kampf des kleinen Mannes („klein“ mal wörtlich wie beim Zwerg Nase, mal in übertragenem Sinn wie beim Fremden, der den Affen dressiert) gegen eine an und für sich übermächtige Gesellschaft – ein Kampf, der keineswegs zu einer Revolution führt, sondern privat ausgefochten wird und nur dazu führt, dass der kleine Mann, meist mit Hilfe ihm von außen zugetragenen Zufällen (weshalb die ja auch so heißen)), sich in seiner Nische einigermaßen gemütlich einrichten kann. Mehr verlangt er nicht, und mehr verlangt ja auch das Kind (und nun gar das Kind in uns!) nicht. Das macht Hauffs Gestalten liebenswürdig, und es ist diese bei aller romantischen Verbrämung nüchterne Botschaft, die uns heute noch anspricht. Nüchtern und entsprechend kunstlos sind deshalb auch Hauffs Märchen. Was aber natürlich der Literaturwissenschaft zu einfach ist, auch wenn gerade diese Einfachheit und Nüchternheit hohe Kunst ist.


1) Wilhelm Hauff: Sämtliche Märchen. Mit den Illustrationen der Erstdrucke. Herausgegeben von Hans-Heino Ewers. Dietzingen: Reclam, 2011. (= RUB 104)

2) Als Beispiel sei die satirische Kritik am Wesen der Kleinstädterei im Affen genannt.

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