Mathematisch-Mechanisches: Mit dem dritten und letzten Teilband des dritten Buchs (Le côté de Guermantes von À la recherche du temps perdu befinden wir uns ziemlich genau in der Mitte dieses Großromans von Marcel Proust. Anders ausgedrückt: In der Aufteilung meiner Ausgabe (Gallimard, 1949) ist das nun der achte von insgesamt fünfzehn Teilbänden, die den ganzen Roman ausmachen. Noch anders, in Regal(zenti-)metern: Ich habe nun 14 Regalzentimeter À la recherche du temps perdu gelesen und noch deren 14,5 vor mir. (Wobei ich mir dessen bewusst bin, dass die ‚langweiligen‘, die ‚schwierigen‘, Teile erst noch kommen; ich lese den Roman ja nicht zum ersten Mal.)
Le côté de Guermantes endet, wie es begonnen hat: mit einer Einladung zu einer Veranstaltung des Hochadels. Ganz am Anfang haben wir den Ich-Erzähler begleitet, wie er einen Salon der Mme de Villeparisis besuchte. Er hat damals schon klar gemacht, dass zu der Zeit, als Mme de Villeparisis ihren Salon noch führte, dieser keineswegs als der beste oder mondänste der Stadt galt, im Gegenteil. Erst – und hier streift Proust das Hauptthema seines Romans wieder einmal – die viel später veröffentlichten Erinnerungen der Mme de Villeparisis machten ihn in der Ansicht der folgenden Generation dazu. Zu ihren Lebzeiten galt er als einer der ‚minderen‘ Salons, so, wie auch Mme de Villeparisis als eine der ‚minderen‘ Vertreterinnen des Hochadels galt. Denn sie hatte offenbar – zwar mit den Guermantes verwandt – einen ‚minderen‘ Adligen geheiratet; ja es ging das Gerücht, dass der unterdessen verstorbene Gatte gar kein Adliger gewesen sei, sondern sich eigenmächtig den Titel de Villeparisis zugelegt habe, weil er ganz einfach aus der Stadt (frz.: la ville) Paris stammte. Sein (und damit ihr) Titel wäre also frei erfunden. Dieses Gerücht zu hören genügt nebenbei, völlig, um die vorher hohe Meinung des Ich-Erzählers über Mme de Villeparisis in ihr komplettes Gegenteil zu verkehren.
Bevor wir aber zu einem Abendessen bei Mme de Guermantes eingeladen sind, erzählt unser Ich-Erzähler noch die seltsame Geschichte, wie er von seinem Freund Robert de Saint-Loup gehört hat, dass eine andere Adlige, Mme de Stermaria, leicht zu haben sei, wie man heute wohl sagen würde. Er verabredet sich also zu einem Abendessen auf der Île du Bois mit ihr. Es handelt sich dabei um eine Gegend, die in dieser Jahreszeit schon recht verlassen ist, und wo er zu mehr als nur einem Essen zu kommen hofft. Tagelang stellt er sich die ausgetauschten Berührungen vor und kann kaum noch schlafen. Wir kennen unseren Ich-Erzähler nun genug, um zu wissen, dass der junge Mann genau dann nicht zum Zug kommt, wenn er sich etwas (zumindest im Moment gerade) am meisten wünscht oder vorstellt. So ist es auch hier: Mme de Stermaria hat ihn völlig vergessen und für den gleichen Abend ein anderes Rendezvous ausgemacht. Der Ich-Erzähler geht dann mit Saint-Loup essen, der überraschend aus seiner Garnison, die sich unterdessen in Marokko befindet, angereist kommt.
Dann aber das Abendessen mit dem Ich-Erzähler als einzigem Bürgerlichen unter lauter Hochadel! Bei der Schilderung dieses Abends läuft Proust einmal mehr zu Hochform auf. Auf rund 200 Seiten erzählt er davon. Zunächst verbringt unser Erzähler eine Dreiviertelstunde bei der Kontemplation einiger Gemälde von Elstir, die die Guermantes besitzen. Ursprünglich lag sein Wunsch, diese zu sehen, darin begründet, dass er so seiner Liebe, der Mme de Guermantes nahe sein könnte. Diese Liebe zwar, zu Beginn des dritten Buchs hier gerade erst entflammt, ist bereits wieder erloschen. Nunmehr aber vergisst er bei der kontemplativen Betrachtung der Gemälde Zeit und Ort. Die Guermantes sind höflich genug, dem Bürgerlichen jede Menge Zeit zu lassen, selbst wenn das bedeutet, dass die ganze Gästeschar auf ihn wartet mit dem Abendessen. Er kommt dann doch und wird den andern Gästen sogar noch kurz vorgestellt, bevor man sich an den Tisch setzt. Und nun folgt ein wunderhübsches Beispiel, wie Proust mit Erzählzeit und erzählter Zeit zu spielen versteht. Nach und während der Vorstellung nämlich versinkt der Ich-Erzähler in eine Art Träumerei. Er hängt seinen Gedanken nach über den Unterschied in der Höflichkeit des Hochadels zum Rest der Welt, um dann zu weiteren Merkmalen dieses Hochadels im Allgemeinen und von M. und Mme de Guermantes im Besonderen. Das nimmt Dutzende von Seiten in Anspruch, muss sich aber in der Realität des Ich-Erzählers in Sekundenbruchteilen abgespielt haben (wenn wir denn davon ausgehen, dass es sich hier tatsächlich um die Gedanken handelt, die er in diesem Moment gehabt haben soll), denn wie wir zurück in diese Realität kommen, ist die Gesellschaft gerade erst daran, sich zu Tisch zu setzen. Solches ereignet sich im Laufe des Essens noch einige Male. (Nebenbei: Wir erfahren mit keinem Wort, was aufgetischt wurde; es werden nur die Gespräche rapportiert und vor allem die mehr oder weniger geistreichen Aperçus der Mme de Guermantes.)
Nun habe ich gerade geschrieben „wenn wir denn davon ausgehen, dass es sich hier tatsächlich um die Gedanken handelt, die der Ich-Erzähler in diesem Moment gehabt haben soll“. Tatsächlich ist das aber unmöglich. Nicht, weil die Zeit dazu nicht ausgereicht hätte, sondern aus einem ganz anderen Grund. Proust spielt auf diesen Seiten nämlich nicht nur mit Erzählzeit und erzählter Zeit, sondern auch mit dem Standpunkt eines Ich-Erzählers als solchem. Proust kennt ja nicht nur den jungen Ich-Erzähler, der gerade seine Gegenwart erzählt, und den älteren Ich-Erzähler, der diese Gegenwart und den jungen Mann (oft ironisch) kommentiert. Er kennt und verwendet auch – und dies auf den vorliegenden 200 Seiten mit größter Geschicklichkeit – die contradictio in adiecto eines allwissenden Ich-Erzählers. Es gibt bei ihm tatsächlich den Ich-Erzähler, der weiß, was zum Beispiel M. und Mme de Guermantes besprechen, wenn sie unter sich sind, ja sogar weiß, was sie denken oder fühlen. Dieser allwissende Ich-Erzähler kann sogar unterscheiden (oder entscheiden) zwischen dem, was seine Figuren zu denken oder zu fühlen vermeinen und dem, was sie ‚wirklich‘ denken oder fühlen. Man hat Proust diesen allwissenden Ich-Erzähler auch schon als Fehler vorgeworfen, und ich vermute tatsächlich, dass kein heutiger Lektor so etwas seinen Autor:innen durchgehen ließe. Es macht aber so vieles vom Reiz aus, den À la recherche du temps perdu zumindest für mich hat: ein auf ganz eigene Weise unzuverlässiger Ich-Erzähler.
Nach dem Essen, voll von allen geistreichen Dingen, die er bei M. und Mme de Guermantes gesehen und vor allem gehört hat, geht der Ich-Erzähler noch zum Baron de Charlus, dem Bruder von M. de Guermantes. Der hat ihn eingeladen, nach dem Essen noch bei ihm hereinzuschauen. Unser Ich-Erzähler freut sich darauf, mit ihm darüber sprechen zu können, denn er braucht gerade jemand, um seine Gedanken mündlich wieder loszuwerden. Auf dem Weg zu Charlus freut er sich darauf und stellt sich schon den schönen Abschluss eines schönen Abends vor. Wir wissen bereits, was in solchen Fällen von intensiver Vorfreude geschehen wird: Der Abend geht in die Hose. Charlus zeigt sich als ungehobelter Rüpel, keine Spur von geistreichem Gespräch, und warum Charlus den jungen Mann eigentlich eingeladen hat, erfahren wir auch nicht. (Dabei hätte es der Ich-Erzähler wissen müssen: Es ist nicht das erste Mal, dass Charlus sich so benimmt. Bereits damals in Balbec, als er ihm ein Buch lieh und es kurz darauf brüsk zurückforderte, hatte er diese Seite des Baron kennen gelernt. Proust überrascht uns immer wieder mit der Naivität, die der junge Ich-Erzähler in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen an den Tag legen kann.)
Zum Schluss von Le côté de Guermantes erhält der Ich-Erzähler noch eine weitere Einladung des Hochadels, diesmal von der Verwandten der beiden Guermantes, in deren hôtel seine Eltern und er wohnen, der Prinzessin de Guermantes. Er ist nicht sicher, ob ihm da nicht jemand einen Streich spielen will und beschließt, ‚seine‘ Guermantes zu bitten, ob diese bei der Prinzessin nachfragen könnten, ob das mit der Einladung korrekt sei. Die beiden sind aber gerade außer Haus. Wie es bei unserem Ich-Erzähler so ist, wenn er einen Gedanken in sich trägt: Dieser Gedanke wird zur fixen Idee, die alle weiteren Gedanken und Tätigkeiten ausschließt. Er beschließt also, den beiden abzupassen. Dafür setzt er sich ins Treppenhaus des hôtel und beobachtet den Hof. In diesem Moment ist sich Proust auch nicht zu schade, den uralten Trick der Trivialliteratur anzuwenden, indem er seinen Ich-Erzähler sagen lässt, dass er von der Treppe aus etwas erfahren habe, das seine Sicht auf einige Dinge und Menschen völlig verändert habe, er zunächst aber noch etwas anderes erzählen wolle und davon erst im nächsten Band berichten werde.
Dieses ‚Andere‘ ist aber nicht der Bericht von der Einladung bei der Prinzessin de Guermantes – Le côté de Guermantes endet, bevor er davon erzählen könnte. Er berichtet nur noch davon, wie er ‚seine‘ beiden Guermantes schließlich tatsächlich trifft. Sie sind aber in Eile. Sie sind am Abend zu einem Maskenball eingeladen, und dann soll auch noch Swann kommen, der Mme de Guermantes eine Fotografie geschickt hat, die er ihr noch erklären will. Hinzu kommt, dass ein naher Verwandter der Guermantes im Sterben liegt. M. de Guermantes hat einen Bediensteten geschickt, sich nach dessen Befinden zu erkunden. Sein Problem ist dabei Folgendes: Falls dieser Verwandte tatsächlich stirbt, verpflichtet ihn die Trauer-Etikette dazu, seine Teilnahme am Maskenball abzusagen. Wie ein Kind kennt er aber im Moment keinen größeren Wunsch als dorthin zu gehen. Der Bedienstete kommt zurück und meldet, dass der Verwandte noch lebt. M. de Guermantes ist erleichtert. Er ist der Etikette gefolgt und hat nach dessen Befinden gefragt. Falls er nun stirbt, während er auf dem Ball ist, kann er nichts dafür. Und so konstruiert er aus der Mitteilung, dass der Verwandte noch lebe, die Nachricht, dass er die Krise überstanden hätte und auf dem Weg der Besserung sei. Es zeigt sich, dass auch Mme de Guermantes mehr Interesse an Swanns Fotografie hat und noch mehr am Maskenball. In einer kurzen Szene zerstört Proust so das gerade erst aufgebaute Bild des höflichen und rücksichtsvollen Hochadels. Auch die so hoch verehrten Guermantes sind nur Egoisten.
Als die beiden abgefahren sind, bleiben Swann und der Ich-Erzähler zurück. Swann, der weiß und es auch Mme de Guermantes bereits erzählt hat, dass er an einer Krankheit leidet, die ihn unweigerlich in den nächsten Monaten töten wird, diskutiert mit dem Erzähler noch über die Affäre um Alfred Dreyfus, in welcher der große Teil des Hochadels sich gegen Dreyfus wendete, was für Swann ein sicheres Zeichen ist dafür, dass alle diese Leute auch Antisemiten sind. Der Ich-Erzähler möchte das nicht so pauschal sehen, er ist der Meinung, dass es durchaus auch dort welche gebe, die zwar gegen Dreyfus sind, aber nicht gegen die Juden im Allgemeinen. (Aber auch in diesem Gespräch erfahren wir nicht, ob der Ich-Erzähler nun pro oder kontra Dreyfus eingestellt wäre!)
Und so endet Le côté de Guermantes mit zwei Cliffhangern. Als Lesende sind wir nun gespannt darauf, wie sich der Abend bei der Prinzessin de Guermantes entwickelt, und natürlich auch darauf, was denn nun der Ich-Erzähler von der Treppe seines Hauses aus gesehen haben könnte. Der Titel des nächsten Buchs, Sodome et Gomorrhe deutet allerdings schon so einiges an …