In Besprechungen der vorliegenden Biografie Wielands habe ich im Internet auch schon Dinge gelesen wie „Wieland kennt heute niemand mehr.“ Das wäre, wörtlich genommen, natürlich Unsinn. Allein die Tatsache, dass hier einer (nämlich Jan Philipp Reemtsma) ein rund 700 Seiten starkes Buch über Christoph Martin Wieland verfasst hat (erschienen dieses Jahr, 2023, bei C. H. Beck), in dem er häufig und extensiv aus dessen Werk zitiert, beweist, dass ja mindestens eine Person Wieland noch immer kennt. Und liest. Und – das sei gleich hinzugefügt – liebt. Es sind natürlich mehr. Ob Wieland wirklich so unbekannt ist, wie gewisse Rezensent:innen gerne hätten, glaube ich nicht einmal. Natürlich macht es sich gut, wenn man sich und dem Publikum suggeriert, dass man zu den wenigen Auserwählten gehört, wenn man Wieland kennt, aber ich denke, dass alle, die sich auch nur ein bisschen für die deutsche Literatur interessieren, schon über Wieland gestolpert sind, genug wahrscheinlich, um eine Großstadt zu füllen. Mindestens. Dennoch liegt in dieser Aussage ein Körnchen Wahrheit. Von allen Autoren, die die Weimarer Klassik primär ausmachen, kennt man Wieland heute am wenigsten.
Nun hat Wielands Rezeption sicherlich das Problem, dass er – wie auch Reemtsma festhält – in keiner jener Anthologien vorkommt, die für die Schulen erstellt werden und gemeinhin ‚Lesebuch‘ heißen. Das liegt sicherlich – auch darauf weist Reemtsma hin – daran, dass er keine nennenswerten Gedichte verfasst hat und auch keine Kurzgeschichten, die man in eine solche Anthologie stellen könnte. (Was kurz ist, ist erotisch …) Das liegt aber auch daran, dass der subtile Stilist Wieland, dem Andeutungen genügen, wo andere seitenweise beschreiben, eine für heutige Verhältnisse (in denen gleich en masse Buchpreise vergeben werden an Bücher, die in aller Ausführlichkeit und Brutalität homosexuellen Geschlechtsverkehr beschreiben (mind you: Blutbuch hat durchaus seine Qualitäten – wenn wir schon über Wieland schreiben, wollen wir auch Wielandisch argumentieren), kann einer, der selbst in seinen von den Zeitgenossen alsbald als allzu erotisch verschrienen Schriften allenfalls Andeutungen sexueller Handlungen bringt – dass der subtile Stilist Wieland, wollte ich sagen, für heutige Verhältnisse eine allzu feine Klinge führt.
Reemtsma wird nicht müde, aus Wielands Schriften zu zitieren und auf deren stilistischen wie inhaltlichen Finessen hinzuweisen. Er ist ganz eindeutig ein großer Fan Wielands. Das trifft sich gut – ich nämlich auch. Wielands Rolle – eben nicht als Vorreiter, sondern als Erfinder der Deutschen Klassik, und, was den Roman (ob in Vers oder Prosa) betrifft, auch gleich deren Vollender – sowie seine schriftstellerischen Qualitäten können nicht genug gerühmt werden, wie offenbar wir beide empfinden. (Nicht, dass Reemtsma nicht auch zugeben muss, dass selbst Wieland weniger Gutes, inhaltlich wie stilistisch, geschrieben hätte. Das gilt nicht nur für jene seltsame hyper-religiöse Phase, die Wieland in Zürich durchmachte, und die in einer förmlichen Denunziation Uz’ gipfelte – was er später sehr bereute.)
Reemtsma stellt Wielands Leben in zwanzig Kapiteln, einer Vor- und einer Nachbemerkung vor. Die Kapitel tragen als Überschrift entweder Orte, an denen sich Wieland längere Zeit aufhielt oder Werkgruppen, die an diesen Orten entstanden sind. Dem Teutschen Merkur und dem politischen Schriftsteller Wieland, der gern vergessen geht, sind je ein eigenes Kapitel gewidmet. Erst in den Kapiteln zu den einzelnen Orten werden dann die Menschen vorgestellt, mit denen Wieland dort in mehr oder weniger intensivem Kontakt stand. Reemtsma, der Wieland als Tochtervater vorstellt und generell als Mann, der es mit Frauen besser konnte als mit Männern, stellt folgerichtig die Frauen in Wielands Leben viel genauer vor als die Männer: Seine ältere Cousine Sophie Gutermann (spätere von La Roche), deren Enkelin Sophie Brentano, seine große Liebe Christine Hogel (die er im konfessionell zerstrittenen Biberach nicht heiraten durfte, obwohl sie ein Kind von ihm erwartete), Anna Dorothea Hillenbrand (seine Frau – ursprünglich war das wohl eher eine Vernunftheirat, es wurde eine intensive, lebenslange Liebe daraus und als sie in Oßmannstedt starb, verleidete ihm sein ganzes Sabinum), Elisabeth Solms-Laubach (seine letzte Liebe, die er nur brieflich kannte). Selbst über die drei anderen Männer, die mit ihm zusammen zu den deutschen Klassikern gezählt werden, erfährt man wenig in diesem Buch. Dass, wie Reemtsma schreibt, Wieland und Goethe einander nicht richtig fassen konnten, hätte er in praktisch der gleichen Formulierung auch über das Verhältnis zu Schiller sagen können (Reemtsma ist selber ein zu guter Stilistiker, um sich so plump zu wiederholen); dass Wieland und Goethe es bei ihrem Herzog betrieben, Herder als neuen Superintendenten anzustellen (also als Oberhaupt der Landeskirche), weil sie auf diesem Posten einen liberalen Theologen wünschten, um Problemen zu entgehen, wie sie der Hamburger Hauptpastor Goeze Lessing verursacht hatte, erfahren wir noch. Wie es dann weiterging, nicht mehr. Wir können daraus schließen, dass die beiden wohl ihr Ziel erreicht hatten und es für Wieland damit abgetan war. Auch mit Herder ist ja kein intensiverer Kontakt überliefert. Das aber war es im Grunde genommen schon zur Weimarer Klassik, wenigstens was deren Personal betrifft. Die Glorifizierung der Weimarer Klassik hat erst eingesetzt, als Friedrich Schlegel, ein literarischer Rabauke sondergleichen, bereits dafür gesorgt hatte, dass Christoph Martin Wieland als Autor diskreditiert war. Reemtsma will ihn rehabilitieren, was meiner Meinung nach geglückt ist (aber bei mir rennt er offene Türen ein). Allerdings fürchte ich, dass jenseits der paar, die Wieland schon kennen, kaum jemand nun Wieland (oder auch nur das vorliegende Buch) lesen wird.
Ansonsten: Mehr und intensiver als zu den Personen in dessen Leben schreibt Reemtsma, wie gesagt, zu Wielands Werken. Er scheint jedes Fitzelchen zu kennen – was bei einer Ausgabe letzter Hand in 86 Bänden keine Kleinigkeit ist, umso mehr als Wieland dort praktisch keine seiner Übersetzungen einbezogen hat, während Reemtsma auch diese in extenso vorstellt. Handwerklich ist das Buch comme il faut: Im Anhang finden wir eine Zeittafel, Werke nach dem Erscheinungsjahr, ein Literaturverzeichnis mit Wielands Gesamt- und Auswahlausgaben, aber auch den Einzelausgaben, zeitgenössische Quellen, Anmerkungen, Bildnachweise und – unverzichtbar! – ein Personenregister, das auch die Anmerkungen mit einbezieht.
Dass Reemtsma manchmal sehr Wielandisch, dann wieder ein bisschen flapsig schreibt, kann ich verzeihen. (Er könnte das ja von mir kopiert haben.) Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass der ansonsten flüssige und klare Stil nicht von Zeit zu Zeit von nachklappenden Satzteilen gestört würde. (Ich meine solche Dinge wie: „Er sah den Mann, dem er so viel zu verdanken hatte und den er bisher noch nie gesehen hatte außer in seinen Träumen, kommen.“ – Das Beispiel ist von mir, aber solche Sätze finden sich. Und ich weiß, wovon ich rede – solche Sätze unterlaufen auch mir ständig. Hat Reemtsma doch kopiert?) Einige apodiktische Platitüden wie (sinngemäß): „Kreativität kennt keine mittlere Gemütslage, nur Ekstase oder Niedergeschlagenheit“ wären auch nicht nötig gewesen. Und ja: ein bisschen weniger Arno Schmidt; aber das kann man bei Reemtsma wohl nicht verlangen … (Ich gebe zu: Schmidt war der erste im 20. Jahrhundert, der den Romancier Wieland begründet zu rehabilitieren suchte.)
Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Ich kann dieses Buch jedem Wieland-Fan empfehlen (denn das Obige sind keine Einschränkungen, nur Wünsche – und ja: alle, die gern deutsche Literatur jenseits des 21. Jahrhunderts lesen, sollten Wieland-Fans sein; an Wielands Romane kommen selbst im Zeitalter der großen Romanciers, zwischen 1850 und 1950 also, nur wenige heran, auch jenseits des deutschsprachigen Raums).
Der unlängst von Ihnen gewürdigte Unterhaltungskünstler plauderte vorigen Sonntag zunächst mit einer Dame, die einen „Der tägliche Kummer“ oder so ähnlich betitelten Band mit Erzählungen veröffentlicht hat. Die sagte gleich, sie stamme aus einer Familie von Dachdeckern, womit sie Psychologen meinte, da die sich um Leute mit Dachschaden kümmern. Danach habe ich den Ton abgeschaltet und auf den zweiten Teil gewartet. Vorher gab es ein Intermezzo über die selige Kristiane Allert-Wybranietz. Dann war der Unterhaltungskünstler in Oßmannstedt zu Gast bei Jan Philipp Reemtsma, der seine Wieland-Biographie vorstellte. Daraufhin habe ich den Zusatzband der Hamburger Reprint-Ausgabe der „Sämmtlichen Werke“ von 1984 aus dem Regal genommen, „Wielands Leben“ von J.G. Gruber, 1827. Den habe ich damals gelesen, wie auch die XIV Bände der Werke ziemlich flächendeckend. Größtenteils ebenso angenehme wie förderliche Lektüre, doch genügte die Dosis vorerst. Daher bin ich dem Prospekt, den ich jetzt in dem Buch gefunden habe, nicht weiter nachgegangen. In dem wird angepriesen: Thomas C. Starnes, Christoph Martin Wieland, Leben und Werk, Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt, 1987, Drei Bände mit zusammen XXXII, 2168 Seiten, nämlich 1) Vom Seraph zum Sittenverderber, 1733-1783, 2) Der berühmteste Mann in Teutschland, 1784-1799, 3) Der Dekan des deutschen Parnasses, 1800-1813. So vom Gefühl her würde ich mich eher noch darauf einlassen, an langen Winterabenden.
Gruber hat mich mit seiner unbedingten Heldenverehrung so genervt, dass ich die Lektüre sehr rasch abgebrochen habe. Auf Starnes bin ich jetzt neugierig geworden und habe mir die drei Bände antiquarisch bestellt. Danke für den Tipp!