Peter Strauß: Ende offen

In einer Art Querschnitt wird in einer schematischen Reihe gezeigt, wie sich ein junges Pflänzchen den Weg vom Samen durch den Boden bahnt. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Die Ziele seines Buchs, die Gründe, warum er es geschrieben hat, führt der Autor in seinem Vorwort wie folgt an:

Dieses Buch – wie jedes andere auch – baut auf dem Wissen der Menschen vor uns auf und will einen kleinen Beitrag zum nächsten Schritt unserer Weiterentwicklung leisten. „Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen, aber wir können weiter sehen als diese.“ Auch ich führe hierin verschiedene für mich wichtige Erkenntnisse und Denkwege zusammen und entwickle daraus meinen Standpunkt.

Sofern sie nicht von ausgewiesenen Fachleuten stammen, stehe ich, ehrlich gesagt, solchen Büchern wie dem hier recht skeptisch gegenüber. Hauptsächlich stützt sich der Autor im Folgenden dann auf Erkenntnisse der (Paläo-)Anthropologie, der Ökonomie und der Evolutionstheorie. Ein Rundumschlag, der – betrachtet man den Umstand, dass er von Haus aus Motorenentwickler ist oder war – eigentlich fast nur in einem Fehlschlag enden kann. Dachte ich.

Ich gestehe, dass ich im Großen und Ganzen positiv überrascht wurde. Dort, wo sich Strauß auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, greift er auf Sachbücher von Fachleuten zurück (Jared Diamond für die Paläoanthropologie, Thomas Piketty für die Ökonomie, um nur die beiden Wichtigsten zu nennen) und ist auch in der Lage, deren Theorien korrekt zusammenzufassen. Wem also die Zeit, Lust oder Energie fehlt, um Diamond, Piketty, Dunbar, Fromm, Welzer oder Harari im Original zu lesen, findet hier tatsächlich gute Zusammenfassungen. Das Buch wird dadurch über weite Strecken zu einer durchaus empfehlenswerten Lektüre. Wenn ich nun im Folgenden auf die nicht ganz gelungenen Teile und nicht mehr auf die guten eingehe, dann deshalb, weil ich denke, dass Strauß’ Gedanken überlegenswert sind und mit einer überarbeiteten zweiten Auflage noch überlegenswerter sein können.

Es sind vor allem zwei Dinge, die mich stören. Oder anderthalb. Oder zweieinhalb, wie man will.

Da sind zum einen vor allem Definitionen, die mit Zitaten aus Wikipedia gesichert sind. Nun ist Wikipedia, schon von der Art und Weise her, wie die dortigen Einträge erstellt und gesichtet werden, keine zuverlässige Quelle. Es schreiben dort Freiwillige, also Amateure und auch die Personen, die die Einträge sichten, sind nicht immer Fachleute. Es kann durchaus sein, dass ein Gymnasiast einen Artikel zur Quantenphysik schreibt oder überarbeitet und sich dabei Fehler in den Wikipedia-Text einschleichen. Wenn dann ein promovierter Physiker den Text korrigiert, wird seine Korrektur rückgängig gemacht. Nicht, weil die Korrektur falsch ist (die sichtende Person hat selber offenbar keine Ahnung von Physik), sondern weil der sichtenden Person der Gymnasiast als regelmäßiger Schreiber bekannt ist, also als zuverläßig gilt – der promovierte Physiker aber nicht. Im vorliegenden Fall ist es mir vor allem bei gewissen Begriffen aus der Ökonomie aufgefallen, wo Wikipedia den guten alten Adam Smith zitiert. Strauß gibt sogar in Anmerkung 685 zu, dass das dort kolportierte Bild von Smith falsch ist, weil historisch und sachlich nicht korrekt – verwendet es aber vor- und nachher trotzdem. Ich gebe zu, dass viele moderne Ökonomen sich gern bei Smith rückversichern, dass ihre Theorie des modernen Kapitalismus Tradition hat. Aber Smith’ Kapitalismus hat mit dessen heutiger Ausprägung nur noch wenig gemein. Riesige Kapitalgesellschaften, die nur davon leben, dass sie fiktives Geld verschieben, oder Verwaltungs- und Aufsichtsräte, die dafür bezahlt werden, fiktive Verwaltungs- und Überwachungsarbeit zu leisten, hätte Smith ziemlich sicher verworfen. Seine Kapitalisten waren kleine Unternehmer, Handwerker und Kaufleute, die bestenfalls neben ihrer Familie noch ein halbes Dutzend Leute angestellt hatten. Es war deren kleinflächiger Markt, der alles regulierte – nicht der Welthandel des Neoliberalismus. Das könnte man präzisieren, ohne dass der Text an Stringenz einbüßen würde.

(Und wenn ich schon dabei bin, welche Internetseiten man nicht als seriöse Quelle zitieren sollte: „gutzitiert.de“ gehört dazu. Dort werden, völlig unkritisch, gut klingende Aphorismen aufgeführt, die irgendwer irgendwann einem berühmten Menschen zugeschrieben hat. Dazu gehört auch das angeblich von Sokrates geäußerte

Die Jugend liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.

Ich empfehle, solche Zitate immer in Gerald Krieghofers Zitateforschung zu kontrollieren (vorliegendes Zitat unter https://falschzitate.blogspot.com/2017/04/die-jugend-liebt-heutzutage-den-luxus.html) oder beim englischsprachigen Gegenpart zu Krieghofer, quoteinvestigator.com (vorliegendes Zitat unter https://quoteinvestigator.com/2010/05/01/misbehave/, wo man denn auch auf die eigentliche Quelle, eine Dissertation aus dem Jahr 1907, hingewiesen wird). Es ist ärgerlich für Autor wie Leser, denke ich, wenn ein eigentlich seriöses Werk mit unseriösen Zitaten dekoriert wird.)

Tatsächlich einer Korrektur bedarf aber etwas anderes, das nun schwieriger zu korrigieren sein wird, weil einer der Hauptargumentationspunkte Strauß’ darauf beruht – der Bruch nämlich, oder besser gesagt die plötzliche Weiterentwicklung, die das menschliche Denken zumindest in Europa genommen habe, beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. Ich gebe zu, dass das dieser Theorie zu Grunde liegende Bild des Mittelalters bis heute selbst in offiziellen Schulbüchern tradiert wird, weil es wahrscheinlich selbst Historiker, die sich nicht auf diese Epoche spezialisiert haben, kritiklos aus ihren Schulbüchern genommen haben und nun weiter verwenden, aber folgender Satz ist zum Beispiel einfach nur falsch:

In den knapp tausend Jahren des Mittelalters vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahrhundert stockte der geistige Fortschritt in Europa. In manchen Bereichen kam es sogar zu Rückschritten.

[kurz nach Anm. 236 – leider ist das Format EPUB offenbar nicht in der Lage, Seitenzahlen einer Druckversion anzugeben]

Abgesehen davon, dass hier für eine Epoche 1000 (in Worten: tausend!) Jahre unterschiedslos in einen Topf geworfen und verrührt werden: Was für Rückschritte meint der Autor? Sicher, die römischen Straßen, die überall in Europa (und nicht nur hier, im ganzen Römischen Reich) angelegt wurden, verfielen im Mittelalter zum größten Teil. Das lag ganz einfach daran, dass ihr eigentlicher Zweck – eine rasche Verlegung von großen Truppenmassen in kürzester Zeit von einer Ecke des riesigen Römischen Reichs ein eine ganz andere – dass dieser Zweck bei den nun kleineren politischen Einheiten des Mittelalters nicht mehr gegeben war. Wozu Geld ausgeben, um etwas zu unterhalten, das man nicht braucht? (Übrigens kannte das Mittelalter genau das Europa der Regionen, das der Autor kurz nach Anm. 903 für gleichberechtigter und demokratischer hält als die aktuelle EU. Eine Idee, die nebenbei gesagt, so ähnlich auch Leinen und Bummel in ihrem Buch Das demokratische Weltparlament von 2017 verfochten haben.) Halten wir fest: Das Mittelalter war nicht finster, unwissend, brutal, grausam – nicht mehr jedenfalls, als bis jetzt noch jede Epoche der Menschheitsentwicklung. Dass uns die Hexenverbrennungen des Mittelalters als absurd erscheinen (nach Anm. 625), glaube ich wohl. Sie wären auch dem Mittelalter absurd erschienen. Denn – und das hat auch Wikipedia korrekt, aber genau dieses Mal hat Strauß offenbar nicht nachgeschlagen: https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenverfolgung – eine systematische Verfolgung von Frauen (und Männern) als Hexen tauchte erst gegen Ende jenes Zeitraums auf, den wir heute „Mittelalter“ nennen Ihr Höhepunkt waren die Jahre von 1450-1750, von der Renaissance also bis in die Aufklärung. In der Schweiz wurde die letzte Hexe, Anna Göldi, noch 1782 verbrannt. Im gleichen Jahr macht Schiller mit seinen Räubern Furore …

Das Mittelalterbild gehört also eindeutig überarbeitet, auch wenn dann der klare Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit, den Peter Strauß so oft betont und offenbar für sehr wichtig hält, wegfällt. Seine Hauptargumentationspunkte, dass (und was) sich nämlich so rasch wie möglich einiges ändern muss, wenn wir als Menschheit überleben wollen, werden dadurch meiner Meinung nach nicht betroffen.

Ich danke dem Autor für das Überlassen eines EPUB. Das Buch ist 2020 beim Tredition-Verlag erschienen.

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