Wir kennen das alle: Da erzählt eine Person im Kreis von Freund:innen, Bekannten oder Kolleg:innen von ihrem letzten Urlaub. Unweigerlich wird die Sprache dann auch auf das gebuchte Hotel kommen, das Hotelzimmer und das Hotelfrühstück. Diese Person wird einige herausstechende Merkmale ihres Hotelzimmers schildern, zum Beispiel: „Im Badezimmer hing nur ein winzig kleiner runder Spiegel, und der war so hoch aufgehängt, dass ich mich darin nicht sehen konnte.“ Ebenso unweigerlich wird spätestens hier eine andere Person einfallen und von ihrem Hotelzimmer sprechen: „Bei uns im Hotel XYZ in Dingenskirchen war es ja so, dass im Badezimmer ein mannshoher Spiegel stand, und so platziert, dass ich mir beim Pinkeln zuschauen konnte!“ (Das Pinkel-Beispiel stammt von Wagner.) Anders gesagt: Diese Schilderungen spezieller Umstände im Hotelzimmer reizen die angesprochenen Personen immer dazu, sie mit noch spezielleren Umständen übertrumpfen zu wollen.
Das vorliegende Büchlein ist dieses Jahr (2023) bei der Büchergilde in deren Reihe BÜCHERGILDE UNTERWEGS erschienen und die Herausgeberin der Reihe, Julia Finkernagel, ist sich obiger Gefahr sehr wohl bewusst, wie ihr Vorwort zeigt. Dennoch tappt auch sie in diese Falle und erzählt nun ihrerseits von den außergewöhnlichsten Übernachtungen auf ihren Reisen.
Es scheint so zu sein, dass irgendwo im Hinterkopf des durchschnittlichen westeuropäischen Menschen eine Art ‚Norm-Hotelzimmer‘ existiert. (Platon würde von der Idee des Hotelzimmers sprechen.) Dieses Norm-Hotelzimmer hat eine bestimmte Größe, auch Anzahl und Größe der Fenster liegen fest, Ausrüstung des Bads usw. usw. usw. Diese Norm wird beim einzelnen Menschen variieren, so, wie die Idee eines Baumes sich beim einen im Kopf als Buche materialisiert, bei einem anderen als Birke. Dennoch fällt auf, dass wir einander immer nur von den Abweichungen von dieser Norm erzählen (ich will mich ja nicht ausnehmen).
Das gilt in hohem Maß für Wagner. Er hat offenbar vom 07./08.03.2013 bis zum 20.05.2016 in allen (oder jedenfalls in vielen) Hotelzimmern, in denen er sich in dieser Periode aufhielt, notiert, was ihm aufgefallen ist. Warum oder mit wem er überhaupt in diesem Zeitraum so viele Hotels in so vielen Ländern (s. die Liste der Schlagwörter) besucht hat, erfahren wir nicht. In einigen Fällen tippe ich auf Lesereisen bzw. offiziöse Aufträge, denn er erwähnt auch ein Gästezimmer des Goethe-Instituts in Paris oder ein zu einer Universität gehörendes Hotel in Peking. Ich habe nicht nachgezählt, wie viele Zimmer wir mit Wagner besuchen. Es müssen um die hundert sein.
Es ist ein riesiges Kaleidoskop an Hotelzimmern. Dummerweise beginnt das schnell zu langweilen. Ein Reisebericht ist das hier nicht, denn über Land und Leute erfahren wir nichts. Das Land ist bestenfalls Staffage, die er aus dem Fenster des Hotels sieht (ein einziges Mal erzählt er von einer Wanderung, bei der er sich in der Distanz zurück zum Hotel verschätzt hat und erst spätabends völlig durchnässt wieder dort eintraf). Die Leute, das sind das servierende Personal beim Hotelfrühstück (das ungefähr die Wichtigkeit hat des Kaffees und auch ähnlich taxiert wird: nett, freundlich oder eben nicht) oder der Hotelboy, der abends kommt und die Bettdecke zurückschlägt, auf dass der gnädige Gast nur noch hinein zu schlüpfen braucht. Die Hotelwelt, wie sie sich Klein-Maxi vorstellt und wie er/sie darüber erzählt …
Wagner kannte ich vorher nicht. Dieses Büchlein ist erstmals 2016 bei Rowohlt erschienen. Auch hat der Autor, gemäß Angaben am Schluss, einige renommierte Buchpreise entweder erhalten oder stand zumindest auf deren Long- eventuell gar auf der Short-List. Von daher wundert mich die Nullität dieses Textes. (Oder auch nicht: Literaturpreise werden meistens nicht an Bücher vergeben, die ich persönlich als qualitativ hochwertig einstufen würde.)
Wagner ist alles andere als ein begabter Naturalist, will sagen: Schilderer von unbelebten Objekten. Mit Ausnahme des Umstandes, dass es der Schriftsteller Wagner einer Erwähnung wert findet, wenn in einem Zimmer oder überhaupt in einem Hotel ein paar Bücher stehen (wie zu erwarten aber: nichts Aufregendes), gehen seine Schilderungen weder inhaltlich noch formal über das Niveau hinaus, das die privaten Schilderungen im eingangs erwähnten Gespräch aufweisen. Die Natur ist sowieso de facto abwesend, also will ich gar nicht erst darüber klagen, wie viel er in Bezug auf deren Schilderung von einem Brockes hätte lernen können. Da er aber immer wieder Möbel und andere (innen-)architektonische Seltsamkeiten seiner Hotelzimmer erwähnt: Wie viel hätte er für deren Darstellung von Stifter lernen können, ja lernen müssen! Last but not least hätte er von Mark Twain oder nun gar von Xavier de Maistre lernen können, ja müssen, wie man die Reise um ein (Hotel-)Zimmer interessant gestaltet.
Von alle dem: nichts. Rein. Gar. Nichts.
Da höre ich lieber Kolleg:innen beim Erzählen von ihren Hotelzimmern zu. Da kann ich mich wenigstens noch einschalten und sie mit eigenen Erlebnissen in Hotelzimmern gleich übertrumpfen.