Samuel Johnson: Reisen nach den westlichen Inseln bei Schottland [A Journey to the Western Isles of Scotland]

Leuchtend gelbe Schrift auf leuchtend rosa Hintergrund: "Schottland". - Ausschnitt aus dem auf dem Cover aufgedruckten Buchtitel.

Lassen wir uns nicht von der heutigen Verwendung und Bedeutung der Wörter ‚Schottland‘ und ‚Reisen‘ in die Irre führen. Mit beiden Wörtern verband man 1773, als Johnson zusammen mit seinem jüngeren Freund Boswell zu seiner Reise nach den Hebriden aufbrach, noch etwas andere Inhalte als heute. Es schwangen Ideen mit, die das heute nicht mehr tun – in der Linguistik würden wir sagen: Es existierten noch andere Konnotationen.

Beim Wort ‚Schottland‘ leuchtet das wohl sofort ein. Seit 1603 stand das Land zwar unter demselben Monarchen wie England; aber englische Bräuche und Sitten sickerten nur langsam ein. Zur Zeit von Johnsons Reise war der Süden, die Lowlands, mehr oder weniger anglisiert – will sagen: Man sprach und verstand (nur noch) Englisch; die Straßen waren von der Art, dass das Kutschen darauf fahren konnten, und es gab in regelmäßigen Abständen Gasthäuser für Verpflegung und Übernachtung der Reisenden. Nördlich und westlich von Aberdeen aber (also cum grano salis, was man heute als ‚Highlands‘ bezeichnet) hörten die Straßen sehr bald auf. Es gab nur noch Saumpfade und Johnsons Reisegesellschaft war genötigt, auf Reitpferde umzustellen. Selbst diese mussten sie an einigen gefährlichen Stellen am Zügel führen und selber marschieren. Einigermaßen anständig übernachten konnten sie nur, wo sie ein Gutsbesitzer gastlich aufnahm, ansonsten sie waren gezwungen, in Heuschobern oder schmutzigen Bauernhütten die Nacht zu verbringen. Zwar waren alle Gutsbesitzer (oder Lairds, wie sie genannt wurden) sehr gastfrei, aber die Highlands waren ein dünn besiedeltes Land. Es würde noch lange keinen Tourismus geben mit ausgebauten Straßen. Die Inseln der Hebriden waren nur mit kleinen Ruder- und Segelbooten zugänglich, von regelmäßig verkehrenden Fähren oder gar der Brücke vom schottischen Festland auf die Insel Skye konnte noch keine Rede sein. So wurde die Reisegruppe einige Male auf einer Insel aufgehalten, weil das Wetter eine Überfahrt auf die nächste nicht erlaubte. Whisky, heute ein wichtiges Exportprodukt und Gegenstand eines über die ganze Welt ausgebreiteten Kults, war billiger Fusel, der eigentlich gar nicht hätte gebrannt werden dürfen. Dennoch war er, wie Johnson feststellte, für viele Standard-Bestandteil ihres Frühstücks.

Aber auch mit dem Begriff ‚Reisen‘ verband Johnsons Zeit nicht ganz das, was wir heute darunter verstehen. Die Tätigkeit des Reisens kennt nämlich verschiedene historische Stufen. Im Mittelalter reiste nur, wer unbedingt musste – und das waren wenige: Soldaten natürlich (die deswegen auch „Reisige“ hießen), niederer und hoher Klerus, der Hochadel, der sein Reich zu kontrollieren hatte, Handwerksburschen, die zwecks weiterer Ausbildung zu fremden Meistern reisten. Ansonsten Vagabunden (ein Wort, in dem der Begriff des Reisens ja auch steckt): Bettler, Straßenräuber, fahrende Sänger. Bauern kannten allenfalls den Markt der benachbarten Stadt, und die Bürger eben dieser Städte verließen ihre Stadtmauern nur noch, wenn Feinde vor diesen auftauchten. Aus den Inspektionsreisen des Adels entwickelte sich dann langsam die Sitte, dass die jungen Ritter andere Adelsfamilien aufsuchten. Ursprünglich war das eine Art diplomatischer Mission, die sie ausübten; schon bald aber kam ein Bildungsaspekt hinzu: Die jungen Männer lernten im ‚Ausland‘ fremde und feinere Sitten kennen. Das sickerte dann auch ins unterdessen wohlhabend gewordene Bürgertum ein und wurde institutionalisiert: Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war die Grand Tour geboren. Mit Laurence Sterne wurde das Reisen „empfindsam“ – wichtig waren nun die Gedanken und Gefühle, die so eine Reise in den Reisenden anregte. Die Romantik nahm das dankbar auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte dann Cook (Thomas, nicht James) mit der Erfindung der Pauschalreise das Reisen erschwinglich und damit massentauglich. Und so nebenbei wurden auch entlegene und einst ‚wilde‘ Gegenden wie die schottischen Highlands und die Hebriden für den Tourismus erschlossen.

Parallel zur Grand Tour hat die Aufklärung aber noch eine andere Form des Reisens entwickelt: die Forschungs- oder Entdeckungsreise bzw. Expedition. Nicht alle wurden zu Schiff ausgeführt und nicht alle waren Weltumsegelungen. Es gab auch bescheidenere Projekte, und eines davon war Johnsons Reise nach den westlichen Inseln Schottlands. Was wir in diesem Text nämlich vor uns haben, ist eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme der schottischen Verhältnisse unter besonderer Berücksichtigung der Highlands und der (inneren) Hebriden. Johnson notiert zum Beispiel, wie die reformatorischen Bilderstürmer unter John Knox katholische Kathedralen und Kirchen zerstört haben und wie nun nur noch hässliche Ruinen in der Landschaft stehen. (Die Verehrung von Ruinen ist ein romantisches Konzept und war Johnson fremd.) Er notiert, dass in Schottland kaum mehr ein Baum steht, geschweige denn ein Wald. Dafür wurde er von Schotten ziemlich heftig angegriffen; heute ist man eher Johnsons Meinung, dass in Schottland viel zu viel vom ursprünglichen Wald gerodet wurde. Johnson notiert, was die einfache Bevölkerung isst und trinkt, was sie anbaute, welches Vieh sie hält und wie viel Stück davon. Er notiert, dass sie von einem gewissen geografischen Punkt an kein Englisch mehr versteht. Er und seine Mitreisenden sind auf ihre Führer angewiesen (in der Grenzregion spricht und versteht man Englisch wie Gälisch) oder auf die Lairds, die zwar eine englische Ausbildung genossen haben, aber mit ihren Untertanen ja trotzdem irgendwie verkehren müssen. (Boswell, selber Sohn eines Lairds, stammt aus den Lowlands; er spricht und versteht kein Gälisch.) Johnson notiert, dass praktisch zugleich mit der englischen Sprache der Gebrauch von Geld verschwindet. Er beschreibt das gesellschaftliche System der Highlands: Offiziell wurde das hergebrachte Clan-System zerschlagen, aber hier finden sich noch immer die ehemaligen Clan-Oberhäupter als Landbesitzer – als Lairds eben – und sie sind die einzigen, die bei der Bevölkerung Autorität, ja Verehrung, genießen. Und so ganz nebenbei, am Schluss seines umfangreichen Abschnitts zu Land und Leuten, spricht er Macpherson ab, dass seine Bücher des Ossian echt sein können – nur schon, weil in Schottland keinerlei Aufzeichnungen in gälischer Sprache aufzufinden sind. Auch hier reagierte der schottische Nationalstolz in aller Heftigkeit. Und auch hier wissen wir heute, dass Johnson Recht hatte.

Johnsons Reisebericht ist also voller ‚technischer‘ Berichte und Beschreibungen. Für ihn war, was er hier unternahm, eine Forschungsreise – so, wie auch Cook (diesmal James und nicht Thomas) eine Forschungsreise unternommen hat. Es kann deshalb nicht wundern, dass er als einen der wenigen lesenswerten Autoren einmal Joseph Banks nennt. Der Bericht erschien 1775 und wurde noch im gleichen Jahr – wir wissen nicht von wem – ins Deutsche übersetzt. Doch während Johnson im englischen Sprachraum nach wie vor auf einem Status gleich hinter Shakespeare rangiert, genießt er im deutschen bedeutend weniger Achtung. So kommt es, dass diese Übersetzung bis heute die einzige geblieben ist. Boswells später erschienener Bericht über dieselbe Reise hingegen … Dazu muss man in Rechnung stellen, dass Boswell, rund 30 Jahre jünger als Johnson, bereits eine andere Generation repräsentiert. Wo es Johnson in seinem Bericht um Schottland geht, geht es Boswell in dem seinen um – Johnson. Boswell ist bereits die Generation der Vergnügungsreisenden, wo Johnson noch zu denen gehörte, die reisten, um (wissenschaftliche Tatsachen) zu entdecken. Boswell steht uns Heutigen näher, und so ist es kein Wunder, dass sein Reisebericht bis heute auch im Deutschen immer wieder aufgelegt und neu übersetzt wird, während im Englischen auch Johnsons Bericht (oft zusammen mit dem Boswells) immer noch im Handel ist.

1984 hat der Insel-Verlag die einzig existierende deutsche Übersetzung in einer Neuauflage in modernerer Rechtschreibung sowie mit einem Anhang der Herausgeber Volker Wolf und Bernd Zabel neu herausgeben. Vor mir liegt die 2. Auflage von 2016. Es handelt sich dabei aber offensichtlich nur um einen Reprint, jedenfalls wurde die Bibliografie der Herausgeber nicht über 1984 hinaus nachgeführt. Das Buch ist in der Zwischenzeit auch nur noch als Print on Demand erhältlich – mit einem potthässlichen Umschlag in leuchtendem Pink mit neongelben Lettern …

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