Lila ist hier nicht eine Farbe sondern der Name der Protagonistin dieses Singspiels*). Goethe schrieb es in wenigen Wochen des Jahreswechsel 1776/1777 nieder. Es wurde zu Ehren des 20. Geburtstags der Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Louise, am 30. Januar 1777 vom Weimarer Liebhabertheater uraufgeführt. Wie der Name schon sagt, agierten hier also Laienschauspieler und -schauspielerinnen; die musikalischen Anforderungen der Musik von Seckendorffs waren wohl nicht allzu hoch gesteckt, obwohl zu sagen ist, dass zu jener Zeit eine minimale gesangliche Ausbildung in der besseren Gesellschaft noch üblich war. Man weiß von anderen (Teil-)Vertonungen, überliefert ist aber meines Wissens keine. Ebenso wenig ist die erste Fassung des Singspiels überliefert, sie kann nur aus gewissen Eigentümlichkeiten der Lieder erschlossen werden. Offenbar war es so, dass ursprünglich der Baron Sternthal selber im Zentrum stand, selber unter merkwürdigen Ideen litt. Ob Goethe das schon für die Uraufführung geändert hat, weiß ich nicht. Jedenfalls überarbeitete er sein Singspiel noch in Rom, um es in der ersten Werkausgabe von 1790 einfügen zu können.
In der überarbeiteten Version war es nunmehr Lila, Baron Sternthals Gemahlin, die unter dem Schock, vom Tod ihres Gatten im Krieg zu hören, den Verstand verlor (wie man heute salopp sagen würde). Nachdem der Tod als Falschmeldung widerrufen wurde, konnte sie nicht daran glauben, war vielmehr der Meinung, man wolle sie schonen. Sie hielt also am Tod des Barons fest. Als er dann aber tatsächlich gesund und munter heimkehrte, änderte sich ihr Wahn dahingehend, dass sie glaubte, es handle sich nur um eine Art Astralkörper, den man ihr vorspiegelte – dieser „man“ aber sollte eine Gruppe böser Geister sein. Alle Versuche, sie von dieser Wahnvorstellung abzubringen, scheiterten, ja, stießen sie nur noch weiter in ihren Wahn und provozierten eine wahre Melancholie (was man heute ‚Depression‘ nennen würde). Als der Hofstaat bereits an einer Heilung der Baronin Lila verzweifelte, erschien Verazio, ein Arzt, der ein ganz neues Heilmittel ausprobieren wollte. Nach langem hin und her erlaubte es der Baron schließlich. Das Heilmittel bestand darin, dass man nicht mehr versuchen sollte, die melancholische Baronin zu schonen oder von ihrem Wahn abzubringen, sondern im Gegenteil sollte man darauf eingehen und mitspielen. Mindestens für den Anfang – hatte sie einmal Vertrauen gefasst, sollte man langsam darauf hinsteuern, dass der Baron mitsamt seinem Hofstaat und den Bediensteten von diesen bösen Geistern als Geiseln gehalten wurde, damit diese letztendlich auch Lila in ihre Gewalt bringen konnten. Lila aber sollte dazu gebracht werden, dass sie durch ihre Handlungen den Baron befreien konnte und so den Zauber sprengen – was letztlich auch gelang.
Wie weit und in welcher Absicht Goethe in diesem Singspiel die Verhältnisse am Weimarer Hof gespiegelt hat, ist schwer zu sagen. Louise von Sachsen-Weimar-Eisenach war offenbar tatsächlich von einem sehr zarten Gemüt und litt unter dem fortgesetzen Fremdgehen des Gatten Carl August. Dieses Singspiel, angesiedelt zwischen Sturm und Drang einerseits, der sich bei Goethe nach Rom ankündigenden Klassik andererseits (also in der Empfindsamkeit), könnte ein Aufruf an Carl August sein, sich doch in Bezug auf Frauengeschichten etwas zurückzuhalten – die erste Fassung, noch mit dem Baron als Leidendem, könnte Goethes problematische Stellung zur Frau von Stein spiegeln. (Der Konjunktiv ist hier Programm.) Der junge Goethe schrieb sich seine Probleme gern vom Hals. Die von Verazio angewendete „psychische Kur“ war ein existierendes (psycho-)therapeutisches Konzept, das im 18. Jahrhundert recht populär war.
Obwohl Lila in der deutschsprachigen Wikipedia sogar einen eigenen Artikel erhalten hat, ist das Singspiel doch recht unbekannt. So ist es bis anhin auch unter meinem Radar durchgeflogen. Erst die Herausgeber von Oskar Loerkes Der Oger haben mich darauf aufmerksam gemacht, wird doch dort – allerdings ohne äußere Einwirkung eines Arztes sondern auf ganz eigenen Antrieb – der Protagonist Martin Wendenich mit dem Niederschreiben seiner Familiengeschichte wie Lila die Technik der (künstlerischen) Konfrontation mit dem eigenen Wahn anwenden und so die ihn krank machenden Faktoren eliminieren können. Die Herausgeber von Oskar Loerkes Der Oger scheinen der Meinung zu sein, dass Loerke (neben dem Erlkönig, der auch ein Oger ist) dieses kleine Werk Goethes gekannt und abgewandelt hat. (Jedenfalls kommt unter den bösen Geistern bei Goethe tatsächlich ein Oger vor.)
Sicher keines der ganz großen Werke Goethes. Aber so mancher mindere Poet möchte froh sein, Lila in seinem Portfolio vorweisen zu können.
*)Singspiele wurden in der Goethe-Zeit jene mindestens teilweise gesungenen Dramen genannt, die an den kleineren Höfen aufgeführt werden konnten (sogar von Laien, wie im vorliegenden Fall). Sie brauchten in jeder Hinsicht weniger Ausstattung, währen die großen Opern nur von reichen Häusern inszeniert werden konnten – eine im damaligen Deutschland fast unmögliche Sache. Vieles, was man damals Singspiel nannte, würde man heute wohl als Operette bezeichnen, weil es auch vom Thema her eher galante Dinge berührte und meist ein Happy Ending vorweisen konnte.
Last but not least:
Meine Ausgabe ist Band 6 des unveränderten Nachdrucks der Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag 1949, herausgegeben von Ernst Beutler unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, 2. Auflage Zürich 1961-1966. Darin die Seiten 861-894.