Oskar Loerke: Der Oger

Links ein bisschen Deko, ansonsten ein hellgründer Hintergrund. Darauf in der oberen Zeile, dunkelgrün, das Wort "Der", nach rechts eingerückt in der unteren Zeile das Wort "Oger". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Als erstes möchte ich meiner Freude Ausdruck geben darüber, dass es noch immer Institutionen gibt, die dafür besorgt sind, dass auch ältere Literatur jenseits des gerade gültigen Kanon wieder aufgelegt und so neuen Generationen zugänglich gemacht wird. Und meiner Freude darüber, dass es noch immer Verlage gibt, die (auch) solche Werke auf den Markt bringen. Das ist nicht selbstverständlich in einer Zeit, wo immer mehr Verlage – gerade die großen und einst so hoch gerühmten – nur noch auf den Share Holder Value schielen und neben immer Neuem nur noch altes bringen, das unangefochten ist. Was ich meine: Es ist einfach, eine kritische Ausgabe der Werke von Thomas Mann zu bringen – ich schätze, es gibt immer noch ein paar Tausend germanistische Institute an eben so viel Universitäten, die so eine Ausgabe ganz einfach abonnieren, weil es zu ihren Pflichten gehört, sie zu besitzen; und es gibt wohl eben so viele Bildungsbürger:innen, die es ebenfalls als ihre private Pflicht betrachten, eine solche Ausgabe im Regal stehen zu haben. Aber Reihen wie ‚rowohlts klassiker‘ oder ‚rowohlts deutsche enzyklopädie‘, in denen man auch ältere Literatur fand jenseits des Mainstream (und mit ‚man‘ meine ich jetzt vor allem Studierende, die wie ich damals genau solche Literatur brauchen) werden eingestampft, weil sich die Verlage nur noch den gewinnbringenden Büchern widmen wollen oder müssen – die gute alte Tugend der einstigen Verleger, mit den Erfolgstiteln ihre Herzblutbücher quer zu finanzieren, ist im Zeitalter international zusammengeschlossener Verlage und unübersichtlicher Besitzverhältnisse längst verloren gegangen. (Alle obigen Beispiele sind genau das: Beispiele. Ich will das nicht so verstanden haben, als ob ich jetzt auf gerade diesen Verlagen herumhacken möchte Es gäbe noch andere anzuführen, aber dann müsste ich ein anderes Aperçu schreiben.)

Man wird also meine Freude verstehen, dass sich im vorliegenden Buch das Stuttgart Research Centre for Text Studies als Institution einerseits, C. W. Leske als kleiner Verlag andererseits, getroffen haben und zusammen eine Reihe herausgeben, die sich Kometen der Moderne nennt. Nun ist der Begriff des Modernen einigermaßen schwammig, aber das soll uns hier nicht weiter stören. Gemeint sind offenbar Werke von Autor:innen aus dem beginnenden 20. Jahrhundert bis ungefähr zur Machtübernahme der Nazi in Deutschland – grob gesagt aus dem ‚Expressionismus‘. In dieser Reihe sind Stand des Erscheinens dieses Aperçu vier Bücher erschienen, von Paul Adler, Heinrich Schaefer und Hedwig Caspari.

Sowie natürlich dieses hier.

Loerke war seinerzeit eine im literarischen Leben Deutschlands nicht unbekannte Figur. Er war zuletzt Lektor bei S. Fischer und hat als solcher alles versucht, seinen jüdischen Verleger aus der Schusslinie der Nazi zu nehmen – inklusive einer Unterschrift unter das berüchtigte Gelöbnis treuester Gefolgschaft von 1933. Er starb 1941 – seine innere Emigration wurde nach dem Krieg nicht mehr zur Kenntnis genommen. (Wie viel die Vertreter:innen der so genannten ‚Trümmerliteratur‘ in ihrer naturalistischen Beschränkung auf die Heimkehrerproblematik an besserer Literatur arrogant zur Seite geschoben haben, wird mir erst heute so richtig bewusst. Auch der ‚magische Realismus‘ eines Loerke wurde als nicht zeitgemäß beiseite geschoben. Und bis heute honoriert der Fischer-Verlag Loerkes Einsatz für seinen Patron in der Nazi-Zeit nicht, indem er zum Beispiel eine hübsche kleine Werkausgabe in die Wege leiten würde.) Nur Loerkes expressionistischen Gedichte (es handelt sich dabei vor allem um Naturlyrik) werden immer mal wieder in Anthologien angeführt (nicht allerdings in Pinthus’ berühmter Menschheitsdämmerung, obwohl Kontakte zwischen den beiden bestanden), und er gilt mit seiner Lyrik als eines der großen Vorbilder von Günter Eich oder Karl Krolow. Seine Prosa ist allerdings praktisch unbekannt. Zu Unrecht, jedenfalls, was den hier vor mir liegenden Oger betrifft.

Ein ‚ogre‘ ist im Französischen meist ein menschenfressender Riese, und auf diese Bedeutung greift wohl auch Loerke zurück. Sein Oger ist eine Krankheit, die eine ganze Familie auffrisst. Man kann den Oger mit den Buddenbrooks vergleichen, hat es auch getan. In beiden Romanen wird Aufstieg und Verfall einer Familie thematisiert. Hier sind es aber nicht Kaufleute wie bei Mann, sondern reiche Bauern. Selbst die Künstlernatur, die bei Mann unumgänglich vorkommen muss, ist bei Loerke zu finden, allerdings nicht in der letzten, völlig degenerierten Generation, sondern in der Figur des Vaters von Martin Wendenich (dem jüngsten Spross der Familie, der deren Geschichte niederschreibt). Dieser Vater, mit Namen Johann, ist auch der, der unter dem Oger leidet. Er ist Epileptiker. Um die Geschichte ganz zu verstehen, muss man wissen (und die Herausgeber des Buchs erklären das sehr gut in ihrem Anhang), dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Epilepsie als Geisteskrankheit und als vererbbar betrachtet wurde. Man ging davon aus, dass Epilepsie im Lauf der Zeit bei den Patienten zu einer Wesensänderung führe, sie ‚verblöden‘ würden – etwas, das Martin auch bei seinem Vater Johann feststellen zu können glaubt (wobei Loerkes Schilderung eher an eine Form von Altersdemenz erinnert). Johann hat in seinem Leben, rückwirkend und aus der Sicht des Sohnes betrachtet, zwei Fehler begangen. Einerseits hat er versucht, ein normales Leben als Erbe eines riesigen Bauernguts zu führen, wobei er hier aber auf den Widerstand des Grossvaters Leonhard stieß – Leonhard, der einen Patriarchen von nachgerade biblischer Statur vorstellt. Er hätte, findet Martin, fand vielleicht auch Johann selber am Ende seines Lebens, gescheiter seiner Passion zur Musik nachgegeben und wäre Musiker geworden. (Bezeichnenderweise löst die Lektüre der Kritik der reinen Vernunft bei ihm einen epileptischen Anfall aus – das absolut Unmusische eines Kant ist nicht sein Weg.) Der andere Fehler Johanns war es, dass er sich verliebte, heiratete und Kinder zeugte. Nunmehr hing über ihm, seiner Frau und seinen Kindern das Damoklesschwert der vermeintlichen Erbkrankheit – was nicht zum Wohl der einzelnen Menschen wie der ganzen Familie beitrug.

Das Ganze klingt so zusammengefasst relativ banal. Was den Roman in großen Teilen ausmacht, ist Loerkes Sprache. Zum Teil an den apokalyptischen Visionen der Bibel orientiert, vermag sie die düstere Atmosphäre perfekt wiederzugeben, die alle Personen des Romans packt. In der neueren deutschen Literatur kenne ich nur Hans Henny Jahnn, der im zweiten Teil von Fluß ohne Ufer eine ganz ähnliche Sprache verwendet – und Jahnn hat von Loerke gelernt.

Loerkes Roman besteht aus intermittierender Rahmen- und Binnenerzählung. Im Rahmen sehen wir den erwachsenen Martin, der im Schatten des Oger steht und zu nichts taugt. Er heuert auf einem Fischkutter an, auf dem schon sein Bruder als Maschinist arbeitet. In der Binnenerzählung schreibt Martin für seinen Bruder die Geschichte der Familie nieder seit deren Aufstieg unter Leonhard. Unterm Schreiben gelingt es Martin, aus dem Schatten des Oger zu treten: Es gibt keine Krankheit. Doch ob ihm diese Erkenntnis noch weiter helfen wird, wissen wir nicht. Am Ende des Romans verunfallt Martin an Bord des Kutters schwer, und wir verlassen ihn auf der Schwebe zwischen Leben und Tod. (Die Rolle des Bruders, nebenbei, bleibt bei Loerke so rätselhaft wie die gewisser Figuren bei Jahnn.)

Anders als die Herausgeber würde ich die expressionistischen Wurzeln Loerkes, nicht nur in der Sprache, stärker gewichten. Da ist die im Expressionismus häufiger anzutreffenden Obsession mit einer (Geistes-)Krankheit, da ist der gewaltsame Tod, den Loerke so oft anspricht – es braucht einen starken Magen, um das ausführlich geschilderte Sterben der gefangenen Fische auf dem Fischkutter verkraften zu können, oder den Tod des einen oder anderen der Kaninchen, die die Kinder über mehrere Generationen züchten. So hat mich der Roman in vielem (außer in der Sprache, die ganz anders klingt – was beweist, dass auch der Expressionismus viele Facetten aufweisen kann) immer wieder an Döblins Erzählung Die Ermordung einer Butterblume erinnert.

Leseempfehlung? Ja, auf jeden Fall.


Oskar Loerke: Der Oger. Herausgegeben von Dieter Heimböckel und Claus Zittel. Düsseldorf: C. W. Leske, 22022. (= Kometen der Moderne, Band 2. Herausgegeben von Claus Zittel und Christoph Steker, in Zusammenarbeit mit dem Stuttgart Research Centre for Text Studies).

Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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