Fangen wir mit dem Titel dieses Romans an: Futurum Zwei. Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft lautete er in der ersten deutschen Ausgabe von 1970 beim Wegner-Verlag, Übersetzer war Martin Beheim-Schwarzbach. Mit dem US-amerikanischen Originaltitel Walden Two im Titel ergänzt, wurde diese Übersetzung 1972 auch als Rowohlt-Taschenbuch herausgegeben. (Vor mir liegt das 54.-60. Tausend, Oktober 1978, dieser Ausgabe.) 2002 erschien die Übersetzung von Harry T. Master im Fi-Fa-Verlag, wobei mir weder der Name des Verlags noch der des Übersetzers etwas sagen. In dieser neuesten Übersetzung heißt das Buch Walden Two. Die Vision einer besseren Gesellschaftsform. In diesen ändernden Titeln liegt ein ganzes Stück (Rezeptions-)Geschichte von Skinner wie von Thoreau. 1970, noch im Kalten Krieg, war es die Hoffnung auf eine Gesellschaft ohne Aggression, die zu faszinieren vermochte; 2002 war der Kalte Krieg kalter Kaffee, und so übersetzte Master etwas neutraler. Andererseits waren 1970 Umweltverschmutzung und Ressourcenknappheit noch kaum ein Thema; Henry David Thoreaus Walden sollte im deutschen Sprachraum erst noch zu seiner gebührenden Aufmerksamkeit kommen. Beheim-Schwarzbach (bzw. sein Verlag) ging offenbar davon aus, dass der Begriff ‚Walden‘ niemand etwas sagen würde und ersetzte ihn durch Futurum. (Dabei wurde in Kauf genommen, dass man so Frazier, den ‚Erfinder‘ von Walden Zwei, einen ziemlichen logischen Salto schlagen lassen musste, als er den Namen seiner Kommune erklären wollte: „Futurum Zwei“, weil sie der Menschheit eine zweite, neue Zukunft bieten wolle / könne. Frazier / der Übersetzer lässt dabei außer Acht, dass in der Grammatik, wo der Begriff herstammt, ‚Futurum Zwei‘ ganz einfach eine Zukunft bedeutet, die schon vorbei ist.) 2002 hingegen war ‚Walden‘, war ‚Thoreau‘, bereits ein Begriff für eine – auch politisch unterfütterte – ökologische und ökonomische Alternative zur kapitalistischen Konsumgesellschaft. In diesem Sinne lässt auch Skinner im Original seine Protagonisten den Begriff verwenden.
Womit wir beim Autor sind: Burrhus Frederic Skinner (1904-1990) war der zu seiner Zeit bekannteste US-amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher. Er war es, der Watsons Behaviorismus so weit modifizierte, dass daraus mehr wurde als eine reine Reiz-Reaktions-Theorie, bei der die wirklich interessanten Teile sich in einer Black Box abspielen (obwohl auch Skinner auf Introspektion gänzlich verzichtet), indem er (anders als Pawlow oder eben Watson) nicht nur den Wert der vorhergegangenen Stimuli betonte, sondern auch die Wichtigkeit dessen, was folgte: nämlich die Belohnung. (Und wenn Skinner – sei es auktoriell, sei es durch seine Figuren – in Walden Zwei immer wieder auf Brave New World rekurriert, und in einem 1976 geschriebenen neuen Vorwort auch auf Orwells 1984, dann ist das nicht, weil er Utopien und Dystopien nicht von einander unterscheiden kann, sondern weil er an Hand von Huxleys Werk, und später noch schöner an Hand von dem Orwells, den Unterschied zeigen kann zwischen einer Konditionierung durch Belohnung, wie sie in Walden Zwei stattfindet, und der, natürlich ebenfalls, allerdings schlechter, funktionierenden, durch Bestrafung.)
Damit sind wir bei Walden Zwei. Das sind in diesem Roman rund 1‘000 Leute, die etwas abgelegen auf dem Land eine Art Kommune (sie nennt sich nicht so) gebildet haben. Vorwiegend vom Ertrag eigener Arbeit (Landwirtschaft, Kunsthandwerk) lebend, ist Walden Zwei weitestgehend autark. Direkte Kontakte mit der Außenwelt sind nicht verboten, werden aber auch nicht gefördert. Alle können im Prinzip alles machen, es gibt aber Spezialisierungen. Die Kleidung ist nicht vorgeschrieben, tendiert aber dazu, zweckmäßig zu sein, weil die Mitglieder dieser Gemeinschaft nicht dazu erzogen wurden, Wert auf speziell auffallende Kleidung zu legen. Die Erziehung funktioniert offenbar durch positive Verstärkung (wobei Skinner hier sehr vage bleibt). So wird denn zum Beispiel Sexualität nicht tabuisiert, auch für die Kleinen nicht. Ja, die jungen Männer und Frauen werden dazu angeregt, möglichst früh zu heiraten – die Frauen bereits mit sechzehn. Kinder sollten sie möglichst früh haben, damit sie sich – so Frazier – mit dreiundzwanzig, noch in voller Jugend, wieder anderem widmen können, so sie mögen. (Pflege schon der Säuglinge und dann auch die ganze Erziehung sind eine Aufgabe der Gemeinschaft, in die sich viele teilen.) Allerdings scheint Skinner in seinem Buch implizit davon auszugehen, dass a) praktizierte Sexualität vor 16 nicht vorkommt oder kein Problem darstellt, b) es nur heterosexuelle Paar-Beziehungen gibt und c) Mann und Frau ein Leben lang zusammen bleiben. Der Verhaltenspsychologe hat nicht bemerkt, wie sehr er selber hier durch die Ideale der US-amerikanischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konditioniert worden ist. (Nicht aber deren Realität, nebenbei gesagt. Eine ähnliche Idealisierung der USA findet man auch dort, wo die Diskussion politisch wird, und die US-amerikanische Demokratie – von allen unwidersprochen – als die doch am besten funktionierende aller möglichen Gesellschaftsformen statuiert wird, wenn man von einem Riesenhaufen dezentral funktionierender Gemeinschaften im Stil von Walden Zwei absieht. In Walden Zwei selber wird zwar nicht politisiert, es handelt sich um eine von Technokrat:innen (an-)geleitete Gemeinschaft, aber man kann sagen, dass in der DNA von Walden Zwei viel mehr der aktuellen USA zu finden ist als selbst im Original von Thoreau.)
Walden Zwei ist in vieler Hinsicht eine Bauanleitung für eine utopische Kommune. Es gibt oder gab denn auch Versuche, sie umzusetzen, darauf komme ich noch. Zuerst aber noch ein Wort zur literarischen Qualität des Werks. Sie ist gering. Die Handlung besteht darin, dass zwei Universitätsprofessoren (ein Psychologe als Ich-Erzähler, ein Philosoph), zwei ehemalige Studenten des Psychologen (Kriegsheimkehrer – wir schreiben das Jahr 1948! –, die ihre Position in der zusehends sich materiellen Werten zuwendenden US-amerikanischen Gesellschaft nicht mehr finden) und deren beiden Freundinnen (davon die eine völlig dem materialistischen Kapitalismus verfallen) – dass also diese Gruppe von sechs Personen die Kommune ‚Walden Zwei‘ besucht, die von Frazier, einem ehemaligen Kommilitonen des Ich-Erzählers, gegründet worden ist. Jeder Roman braucht Spannung. Damit diese hier auftritt, und die Bauanleitung einer Kommune ja nicht viel davon aufweisen wird, greift Skinner zum Trick, die drei alten weißen Männer untereinander in ständige Kabbeleien zu verwickeln, bei der vor allem der Philosoph sich als fachliche und menschliche Niete entpuppt. Über die Länge von nicht ganz 300 Seiten beginnen diese Streitereien allerdings zu nerven. Der Schluss mit dem Psychologen, der zuerst heimfährt, unterwegs aber eine Art Erweckung erlebt, umkehrt, und nunmehr zu Fuß (!) in einem Dreitagemarsch nach Walden Zwei zurück spaziert, ist billig. Als Romancier müssen wir uns Skinner verbitten.
Dass Walden Zwei seine literarischen Vorläufer hat, weiß Skinner, wissen auch die Protagonisten seines Roman. Wells, Bellamy, Morris (vor allem Morris!) oder Butler werden im richtigen Moment sehr wohl erwähnt. Die Lektüre des Zauberbergs, die wir beim Ich-Erzähler finden, kann ich hingegen nicht einordnen. Im Übrigen kann man den Roman durchaus als ‚Science Fiction‘ klassifizieren: Skinners Behaviorismus war damals State of the Art in der wissenschaftlichen – spricht: universitären – Psychologie.
Skinner hat, finde ich, vielleicht post festum, denn man findet es vor allem in seinem Vorwort von 1976, zwei Probleme des US-amerikanischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg richtig erkannt: die große Frustration der Frauen, die – obwohl nominell gleichberechtigt – in der US-amerikanischen Gesellschaft dennoch auf Kinder und Küche reduziert werden (über Menschen anderer Hautfarbe – Indigene oder Afro-Amerikaner – verliert Skinner, hierin der typische weiße Mann, kein Wort); und die bei der sich abzeichnenden Ressourcenknappheit unumgänglichen Einschränkungen (die aber seiner Meinung nach durch positive Verstärkung konditioniert werden sollten, so, dass sich die Menschen über eine wieder gefundene Freiheit freuen und nicht einen Verlust betrauern – eine Taktik, die in der aktuellen Klimadebatte völlig vernachlässigt wird, weshalb sich auch die Fronten zusehends verhärten).
Die Schwächen des Buchs sind leider unübersehbar. Skinner schreibt aus der Position eines Weißen der US-amerikanischen Mittelklasse – eines zugegeben relativ aufgeklärten Weißen, und vielleicht war ihm 1948 etwas anderes auch nicht möglich. Seine Methode der Konditionierung bleibt, wie schon gesagt, aber für die Lesenden viel zu vage. Dafür verlieren sich die Protagonisten in eine theologische Diskussion über die Willensfreiheit – die für einen strikten Behavioristen natürlich inexistent ist. Diese Diskussion ist sinnlos, denn sie bringt die Lesenden nicht weiter. Eine wissenschaftliche Begründung wäre besser gewesen, denn wissenschaftlich gesehen, existiert eine Willensfreiheit tatsächlich nicht. Aber der weiße US-Amerikaner der Mittelschicht kann irgendwie halt doch nicht ohne den lieben Gott; und auch wenn Skinner es gekonnt hätte: Sein Publikum, das ja auch aus dieser Schicht stammte, wäre ihm nicht gefolgt. Dass aber im Roman ausgerechnet der Philosoph auf diese Position zurück greift, schreit meines Dafürhaltens zum Himmel.
Skinners Walden Zwei ist in der ganzen Reihe der utopisch-politischen Romane, die er selber nennt, der einzige, der die Verwirklichung seiner Utopie nicht in eine ferne Zukunft verlegt, sondern in der Gegenwart stattfinden lässt. Und das ist seine große Schwäche als Utopie. Es gab zwar sogar Reaktionen auf das Buch (mir selber sind mindestens zwei Bücher bekannt, die Walden Three heißen und sich explizit auf Walden Zwei beziehen); es gab auch Versuche, diese seine Utopie im Hier und Jetzt umzusetzen. Doch während Walden Zwei im Roman ein Erfolgsmodell war, und man dort gerade daran war, in der Nähe eine Kommune mit dem Namen ‚Walden Sechs‘ zu gründen (Drei bis Fünf exisiteren schon – und ja: das Gründen von Kolonien erinnert an die Mutter aller utopischen Romane, Utopia von Thomas Morus, den Skinner nirgends nennt, und ich frage mich, warum?) – während also im Buch Erfolge gefeiert werden konnten, sind die real existierenden Kommunen nicht so recht vom Fleck gekommen. Ich vermute, dass das an der großen Schwäche von Skinners Utopie liegt.
Nicht nur nämlich wird die Technik der Konditionierung, die Walden Zwei anwendet, nur vage geschildert, nicht nur wird nicht geschildert, wie sich die – ursprünglich ja anders konditionierten – Gründer:innen (oder auch unser Ich-Erzähler, der als über 40-jähriger Mann dazu stößt) wirklich fühlen und aufführen. Vor allem hat Skinner, fürchte ich, die tatsächlich existierenden Reize, die die menschlichen Reaktionen steuern, in ihrer Zahl und Komplexität völlig unterschätzt. Einen Hund unter Labor-Bedingungen zum Speichelfluss zu konditionieren und einen Menschen in freier Wildbahn zu einem guten und glücklichen Wesen zu machen, sind zwei Paar Schuhe völlig unterschiedlicher Dimension.
Für die Geschichte der politischen Philosophie und der Gesellschafts-Utopien mag der Roman noch interessant sein; wen diese nicht interessiert, braucht sich auch für Walden Two nicht zu interessieren.