Bernhard Kellermann: Der 9. November

Grösstenteils rot eingefärbt eine Schwarz-Weiß-Fotografie: Spartakus-Aufstand in Berlin 1919 vor dem Brandenburger Tor. Man sieht eine dichte zusammengedrängte Menge Männer; zwei Fahnen werden geschwenkt. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

9. November 1918, das war das Datum, an dem die Arbeiterrevolutionen, die im Deutschen Reich schon in anderen Städten aufgeflackert waren, auf Berlin übergriffen, was nun den endgültigen Untergang des deutschen Kaiserreichs nach sich zog. Schon seit längerem waren in dieser und jener Stadt Revolutionen ausgebrochen, diese hier war eine zu viel. Das (zu dem Zeitpunkt noch falsche!) Gerücht, Kaiser Wilhelm II. sei geflohen, nahm den Offizieren und Soldaten der vom Weltkrieg geschwächten Armee endgültig jedweden Willen, das Kaiserreich noch zu verteidigen. Seltsamerweise war dieses Datum in seiner Bedeutung aber schon Anfang der 1920er aus dem Gedächtnis der Deutschen entschwunden – zu ungeliebt auf allen Seiten war offenbar deren Resultat, die später so genannte „Weimarer Republik“. (Sie hieß so, weil sich die konstituierende Versammlung in Weimar traf; Berlin hielt man für zu unsicher.)

Bernhard Kellermann gelang 1913 mit mit dem Roman Der Tunnel ein Welterfolg; mit Der 9. November schrieb er immerhin den ersten Bestseller der jungen Weimarer Republik. Sein erklärter Wille war es, diesen Tag, die Ausrufung der ersten Demokratie auf deutschem Boden, wenn auch geboren aus den Nöten des Ersten Weltkriegs heraus, den Bürgern dieser ersten Demokratie für immer ins Gedächtnis zu brennen. Er ist damit gescheitert, wie die ganze Weimarer Republik gescheitert ist; aber immerhin darf das Buch für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, wegen seines pazifistischen Grundtons auf der Liste der zu verbrennenden Bücher gestanden zu haben, die die Nazis zusammenstellten.

Ich habe damals bei der Vorstellung von Der Tunnel als Fazit geschrieben: Sich seiner [nämlich Kellermanns] zu erinnern, lohnt sich tatsächlich kaum. Dieses sehr harsche Urteil möchte ich nach der Lektüre von Der 9. November etwas modifizieren. Zwar ist auch dieser Roman sprachlich wie von der Handlungsführung her nicht in allen Teilen wirklich gelungen. Wie schon im Tunnel gibt es auch hier, vor allem in den Schilderungen von Szenen an der Front, Passagen, die in ihrem expressionistischen Stakkato beeindrucken. Daneben gibt es aber auch im 9. November Längen und seltsame Passagen, wie sogar der Verfasser des Nachworts meiner Ausgabe1), Ulrich Kittstein, zugeben muss, wenn er ganz am Ende eben dieses Nachworts schreibt:

Mag Kellermann auch manchmal etwas zu lange bei den ausschweifenden Vergnügungen der Berliner Schickeria verweilen und in den Handlungssträngen wie der Liebesgeschichte zwischen Klara Westphal und dem Fliegeroffizier Heinz Sterne-Dönhoff hart an die Kolportage streifen, so bleibt sein fesselndes Erzählwerk doch auch nach über hundert Jahren erstaunlich frisch und lesenswert.

S. 440

Dabei holt Kellermann sehr weit aus, beginnt seinen Roman im Frühling 1918, und als Lesende müssen wir bis zum Schluss warten auf diesen ominösen 9. November. Der Autor verzichtet auch auf jedwede historische Konkretisierung. Seine Figuren, und es sind etliche, sind allesamt fiktive Persönlichkeiten. Da ist General von Hecht-Babenberg, der eigentliche Held des Romans. Weil es ihm nicht gelang, die (ebenfalls fiktive) Anhöhe Quatre Vents gegen die Franzosen zu halten, wird er in die Etappe zurückversetzt, nach Berlin. Diese Schlacht um Quatre Vents spielt spielt stellvertretend für den Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle im Leben so vieler Protagonisten. Neben von Hecht-Babenberg (der meist nur der General genannt wird), der zusehends zum Repräsentanten des Kaiserreichs wird, ist da ein Herr Hecht, dessen Sohn bei Quatre Vents geblieben ist und der im Lauf der Erzählung mehr und mehr zum Racheengel und Dämon am General wird. Daneben Ruth, die Tochter des Generals, eifrige Leserin von Lasalle und Marx. Wobei deren Bücher dann offenbar doch wieder nur dazu da sind, als Versteck zu dienen für die Liebesbriefe von Robert, einem jungen ehemaligen Soldaten, der auf nun auf die Revolution hin arbeitet. Der seinerseits hat auf seinem Nachttisch – die Bibel liegen, aufgeschlagen beim Buch der Offenbarung. Und als er zum Märtyrer seiner Mission wird, nennt ihn Ruth einen zweiten Jesus Christus. Kellermanns Revolutionäre agieren in einer seltsamen Mischung aus christlichen und sozialistischen Gedanken.

Wahrscheinlich war es denn auch diese Unbestimmtheit, die dem Buch einerseits zu einem kurzfristigen Bestseller-Status verhalfen, es aber andererseits sehr rasch aus dem Gedächtnis der literarischen Welt verschwinden ließ – mitsamt dem Datum des 9. Novembers.

Letzten Endes liegt wohl hierin die literarische Bedeutung Kellermanns: Indem er bei beiden Büchern, beim Tunnel von 1913 wie auch beim 9. November von 1920 Themen aufnahm, die gerade (noch) in der Luft lagen, quasi seismographisch auf seine Gegenwart reagierte, gelang es ihm, ein großes Publikum zu erreichen. Da er aber mehr wollte als er konnte, „bedeutend“ schreiben wollte, musste er auf längere Zeit scheitern. Er streifte, indem er weiter ausgriff, als ihm eigentlich gegeben war (wie ja auch Kittstein konstatiert) den Kitsch und nichts hält sich in Kunst und Literatur auf Dauer schlechter als eben dieser. Dennoch würde ich Kellermann heute nicht mehr ganz so streng verdammen, wie ich es hier letztes Jahr getan habe.


1)Bernhard Kellermann: Der 9. November. Mit einem Nachwort von Ulrich Kittstein. Darmstadt: wgbTheiss, 2023.

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