Klaus Vieweg: Anfänge. Eine andere Geschichte der Philosophie

Aus einem Halbkreis unten strahlen Hunderte von Schnüren nach oben, die zwischendurch mit Knoten besetzt sind. Ausschnitt aus einer Fotografie eines Khipu (Quipu), die als Titelbild verwendet wurde.

Als ich das Buch bestellte, habe ich im Vorfeld zu wenig genau recherchiert. Ich wusste zwar, dass Vieweg eine Hegel-Biografie geschrieben hatte (die mich nicht interessierte, weshalb ich sie nicht gelesen habe, noch zu lesen beabsichtige), aber auf den Gedanken, dass ein Hegel-Biograf wohl doch selber hartgesottener Hegelianer sein müsse, bin ich irgendwie nicht gekommen. Und da ich auch sonst nichts von Vieweg kannte, bin ich in die Falle getappt. Seit Hans Heinz Holz habe ich keinen philosophischen Text mehr gelesen, der derart von hegelianisch-dialektischer Methodik triefte wie dieser hier. (Nebenbei finde ich interessant, dass Vieweg Holz mit keinem Wort erwähnt, nicht einmal in einer Anmerkung.)

Wenn Vieweg im Titel den Begriff Anfänge verwendet, meint er nicht (nur) die historischen Anfänge der Philosophie sondern die Anfänge des Philosophierens. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Anfänge des Philosophierens im ‚Staunen über‘ etwas liegen, und dieses ‚Etwas‘ versucht Vieweg zu konkretisieren. Dabei setzt er voraus, dass man Philosophie als stetes Herleiten von Begriffen und Theorien begreift, also im Grunde genommen nichts unhinterfragt akzeptiert. Dass er sich selber nicht an seine Vorgabe hält, ist begreiflich, denn ein Anfang muss immer irgendwo gesetzt werden, ob es nun beim Schöpfergott ist oder beim Hegel. Und so setzt Vieweg drei … ich nenne es mal: Momente vor jedem Anfang der Philosophie voraus:

Zum einen, dass Metaphysik als Beschreibung der Fundamente des Philosophierens nicht nur nicht aus der Philosophie (ergänze: als universitäre Disziplin) verbannt werden solle, wie es heute geschehe (ist dem so? Ich bin zu lange von diesem Betrieb weg, um das noch beurteilen zu können), nein: Sie sei sogar als deren wichtigste Beschäftigung anzusehen. Ich setze nun zwar die Metaphysik nicht unbedingt in die zentrale Rolle, in der sie Vieweg sieht, aber stimme mit ihm durchaus damit überein, dass ein völliges Ausblenden von Metaphysik selber nur schlechte Metaphysik ist.

Des weiteren verwirft Vieweg den Gedanken, dass es in der Philosophie seit Hegel Fortschritte gegeben habe. Dem könnte ich im Prinzip auch zustimmen, weil Philosophie für mich viel zu sehr an die aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gegebenheiten geknüpft ist, als dass sie für sich selber ‚Fortschritte‘ machen könnte. Vieweg aber meint hier natürlich das klassische Hegel’sche Geschichtsmodell, nach dem die Philosophie, wenn sie einmal den Weltgeist (also Hegel) erreicht hat, auf dem Höhe- und Endpunkt angekommen ist. (Tatsächlich wird auch die hier vorliegende andere Geschichte der Philosophie nur bis Hegel gehen!) Nun ja, das Ende einer Geschichtsschreibung wurde schon des öfteren ausgerufen – die Geschichte ist trotzdem noch jedes Mal weitergegangen.

Schließlich postuliert Vieweg, dass es, um den Anfang der Philosophie erfassen zu können, eine – nein: dieneue moderne Logik (so der Titel von Kapitel I,3) als Metaphysik braucht. Diese neue moderne Logik aber ist ganz einfach die gute alte Hegel’sche, der klassische dialektische Dreischritt (den Hegel tatsächlich als nicht zu hinterfragende Denkbewegung voraussetzt). Und hier muss ich nun zitieren:

Dieter Henrich [der uns hier nicht weiter zu interessieren braucht] hatte dezidiert daran erinnert, dass Hegel mit seiner spekulativen Logik eine der Begriffsformen moderner Metaphysik vorgelegt hat. Doch diese Metaphysik als Logik des Begriffs wird von den meisten philosophischen Richtungen seit dem 19. Jahrhundert weitgehend selbstherrlich mit Nichtachtung gestraft. Gottlob Frege wird gar als Begründer der modernen Logik gefeiert, der nach Aristoteles eine neue Epoche des logischen Denkens eröffnet habe – eine eklatante Verzerrung der Philosophiegeschichte, denn der legitime Nachfolger im Bereich der philosophischen Logik ist Hegel. […] Es findet sich dann nach Hegels Revolution der Logik leider das dominante Verfahren des Erborgens philosophischer Logik aus anderen Wissenschaften – Freges Begriffsschrift trägt den bezeichnenden Untertitel Eine aus der arithmetischen nachgebildete Formelsprache reinen Denkens. [S. 24 – Hervorhebungen im Original]

Dass die Philosophie nichts aus anderen Wissenschaften borgen dürfe, ist eine ihrer Voraussetzungen, die Vieweg seinerseits selbstherrlich aus Hegels Denken ableitet. Weshalb es besser bzw. einzig korrekt sein soll, etwas Einzigartiges, aus dem eigenen (bzw. Hegels) Daumen Gesaugtes und nirgends Bewiesenes an den Anfang des Philosophierens zu setzen, als sich mit anderen Wissenschaften abzustimmen und sich auf bewiesene, bzw. in ihrer Funktion bestätigte Momente zu stützen, sagt uns der Autor leider nicht.

So verbringen wir die ersten 70 von rund 180 Seiten Text (Anmerkungen etc. am Schluss machen dann nochmals rund 60 Seiten aus) damit, Hegel’sche Logik und Geschichtsphilosophie erklärt zu bekommen.

Dann erst geht es wirklich in die Anfänge des Philosophierens. Witzigerweise folgt Vieweg hier klassischen, nicht-hegelianischen Philosophiegeschichten: Kuno Fischer, Wilhelm Windelband oder – für die Antike – Matthias Perkams. Jedenfalls mehr oder weniger. Das Staunen in der Philosophie (wie gesagt: dieser Begriff stammt so nicht von Vieweg, es ist aber meiner Meinung nach, was er meint) fängt demnach an mit dem Sein als Anfang der Welt, wie es von Parmenides eingeführt wurde. Das zweite Hauptmoment (Vieweg scheut hier Hegels Begriff der ‚Antithese‘) ist dann das buddhistische Nichts, das seiner Meinung nach auch in die vorsokratische Philosophie Griechenlands eingeflossen ist. Als dritte Stufe (den Begriff ‚Synthese‘ mag Vieweg hier auch nicht nennen) finden wird das heraklitische Werden, den ersten konkreten Gedanken. So geht es weiter im logischen Fortgang und Fortschritt der Geschichte der Philosophie über die pure Realität und die pure Negation hin zum leukipp-demokritischen atomistischen Fürsichsein. Mit Platon und Aristoteles (vor allem Platon!) hält dann die Dialektik auch quasi ‚offiziell‘ in die Philosophie Einzug. Von da an konnte ich, offen gesagt, die dialektischen Bewegungen nicht mehr so ganz identifizieren, jedenfalls folgen noch der Skeptiker Pyrrhon und die Neuplatoniker, Descartes und Spinoza, bis wir dann bei der Transzendentalphilosophie enden – will sagen: bei Kant und dessen Verbesserern Fichte, Schelling, Reinhold und Hegel. Die seither vergangenen rund 200 Jahre Philosophierens gibt es dann nicht mehr.

Ich habe mich an den Ratschlag gehalten, den Vieweg seinem Publikum selber gibt, wenn er am Anfang, noch vor dem eigentlichen Text Lewis Carroll aus Alice im Wunderland zitiert:

«Wo soll ich anfangen?»

«Fang am Anfang an», befahl der König würdevoll. [Interpunktion von mir korrigiert.]

Das habe ich ebenso gemacht, wie ich am Ende wiederum Viewegs Zitat, abermals aus Alice im Wunderland, befolgt habe:

Der König bei Lewis Carroll befahl: «Lies bis zum Ende und hör dann auf!»

Nur noch gefragt habe ich mich, ob sich Vieweg dessen bewusst ist, dass Lewis Carroll unter seinem bürgerlichen Namen Charles Lutwidge Dodgson ein durchaus fähiger Mathematiker war und Alice im Wunderland von mathematisch-logischen Rätseln nur so wimmelt?


Klaus Vieweg: Anfänge. Eine andere Geschichte der Philosophie. München: C. H. Beck, 2023

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